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Die Voegel der Finsternis

Titel: Die Voegel der Finsternis
Autoren: Victoria Hanley
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Teil 1
    Sliviia
     
1
    Maeve ließ sich auf eine schmale Bank sinken. Die harten Bretter boten ihren schmerzenden Gliedern kaum Erleichterung, aber wenigstens konnte sie hier, im Hinterzimmer des Badehauses, ein wenig ausruhen. Sie saß still da und betrachtete den Dampf, der aus fünfzig riesigen Kesseln aufstieg, die vor ihr auf einer lang gestreckten, eisernen Feuerstelle standen. Orlo, der stämmige Obersklave von Lord Indols Badehaus, trat durch die Tür und schrie gellend nach heißem Wasser. Wann schrie Orlo einmal nicht? Sein Schreien gehörte zu den Tönen, an die Maeve sich gewöhnt hatte wie an das Platschen des Wassers und das Zischen der Kessel. Orlo meinte es nicht böse. Er sah jedes Mal weg, wenn Maeve sich zuweilen in einen sonnigen Winkel hinter den hohen Kübelpflanzen des kunstvoll verzierten Innenhofs zurückzog und sich, unsichtbar für die Gäste von Lord Indol, ein paar Augenblicke der Ruhe gönnte. Der Brunnen - ein aus Stein gemeißelter Fisch, aus dem sich das Wasser in ein sauberes, rosa und rot gekacheltes Becken ergoss - mochte die Bewunderung der Gäste hervorrufen, für Maeve aber war der goldene Sonnenschein viel schöner. Ihre Mutter hatte ihr gesagt, ohne Sonnenschein würde sie in ihrer Entwicklung verkümmern, wie so viele der Sklaven des Badehauses. Vielleicht bargen die Sonnenstrahlen wirklich einen Zauber. Maeve war nicht besonders groß, hatte aber eine schöne Figur - was ihr täglich die Blicke der Männer bestätigten. Sie versuchte, ihren Blicken auszuweichen, indem sie ihren Körper unter grauen Hemden und zerlumpten Tüchern versteckte. Aber das half nicht viel. „Maeve!", rief Orlo, „ein hoher Lord wartet im Seitenabteil."
    Maeve seufzte und zupfte an ihrem feuchten Hemd. Ein Lord. Ladys waren einfacher zu bedienen. Sie waren meistens nachsichtig und freundlich und lobten sie, wenn sie ihnen den Rücken mit duftenden Essenzen einrieb. Lords dagegen machten grobe Bemerkungen darüber, dass sie keine Sentesan war. Maeve zog den hässlichen Schal zurecht, der ihr volles Haar kaum bedeckte, und ging barfüßig zum Gästetrakt. Hier wurde der Granitboden von unterirdischen Feuern beheizt - die Gäste von Lord Indol durften nicht den geringsten Kälteschauer spüren. Die Wände waren mit bunten Kacheln gefliest, die farblich auf die großen Becken abgestimmt waren. Am anderen Ende des Gästetrakts, hinter den Becken, befanden sich Kammern, wo sich die Lords und Ladys auf Wunsch massieren lassen konnten. Maeve fragte sich, ob sie den Lord kannte, der auf sie wartete.
     
    Das Licht der Laterne fiel auf einen Fremden, der, mit dem im Badehaus üblichen Lendentuch bedeckt, sich auf der gepolsterten Liege räkelte. Er erinnerte Maeve an die Eidechsen, die im Hof manchmal über die Mauern krochen. In Bewegungslosigkeit erstarrt, schienen die Eidechsen mit der Mauer zu verschmelzen, doch wenn sie sich bewegten, waren sie schneller als die Käfer, die sie jagten. Sie ahnte, dass auch dieser Mann schnell sein konnte, wenn er sich bewegte. Maeves Magen zog sich zusammen. „Guten Abend, Herr", sagte sie. „Ich bin Maeve, zu Euren Diensten." Der Lord stützte sich auf einen Ellbogen. „Maeve." Er starrte sie an, seine Augen hatten die Farbe von Stahl. „Und was tut ein nicht gezeichnetes Mädchen in einem Badehaus?"
    Maeve, die als Sklavin geboren worden war, wusste nicht, warum sie noch keine Narben im Gesicht trug, denn es war Brauch, im Alter von fünf gezeichnet zu werden. Seit Jahren graute ihr davor, zu ihrem Gebieter, Lord Indol, gerufen zu werden, aus Angst, nun sei auch für sie, wie für jedes andere Kind im Badehaus, der Tag der Zeichnung gekommen. Ihr graute vor Lord Indols Patrier, der rasiermesserscharfen Doppelklinge der Mächtigen. Jeder gemeine Sklave im Land Sliviia wurde mit Schnitten auf beide Wangen und die Stirn gezeichnet. Lord Indols Kennzeichnung waren Halbmonde an den Schläfen. Narben, die auf die Ausbildung des jeweiligen Sklaven hinwiesen, wurden dicht an den Ohren oder am
    Hals angebracht: eine dreizackige Narbe für einen Koch, eine kreuzweise gezackte Linie für einen Weber, fünf Schnitte für eine Bademasseurin. Seit sie denken konnte, hatte Lord Indol sie zwei Mal im Jahr zu sich rufen lassen, aber er hatte sie nie gezeichnet, sondern sie nur mit seiner schrillen Stimme gefragt, ob sie wüsste, wer ihr Vater sei, und sie genau beobachtet, wenn sie verneinte. Maeves Mutter, die einst Lila die Schöne genannt wurde, war von vornehmer Herkunft,
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