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Das verborgene Wort

Das verborgene Wort

Titel: Das verborgene Wort
Autoren: Ulla Hahn
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herab die Leviten gelesen, Tag des Zornes, Tag der Zähren, das Jüngste Gericht. Er blies weiße Ringe in die Luft, wie man Rauch aufsteigen läßt im Vatikan, wenn ein neuer Papst gewählt worden ist.
    Lehrer Mohren war alt geworden, gelb von seinen Malariaanfällen. Müdigkeit drückte seine Gestalt zusammen.
    Steh auf, Hildegard, sagte er. Ich lächelte den Lehrer an, blinzelnd, die Tränen mühsam zurückhaltend. Zuletzt sah ich auch den Vater an. Er saß da wie einer, der gerade von seinem Hauptgewinn erfahren hat. Aber vom falschen. Als hätte man einem Bauern, der einen Traktor braucht, gerade ein Medaillon mit einem Splitter vom heiligen Kreuz überreicht. Er kaute auf einem Burger Stumpen.
    Steh auf, hatte Lehrer Mohren gesagt. Meine Knie gaben nach. Ich hockte mich auf das unterste Brett des Blumenbänkchens. Mohren klopfte neben sich. Ich setzte mich zu ihm. Saß nun mit den drei Männern dem Vater gegenüber. Ich war bei ihnen, in ihrem Wir. Der Vater war allein. Wir schauten ihn erwartungs-voll an. Er blieb stumm. Schließlich hielt der Pastor eine Art Ansprache. Von den Talenten, die der Herr seinen Knechten anvertraut habe, erzählte er, und daß es Sünde sei, sein Licht unter den Scheffel zu stellen. Auch für ein Mädchen.
    Angelockt durch die wohltönende Stimme, die das kleine Haus mühelos vom Keller bis zum Speicher ausfüllte, war die Großmutter ins Zimmer gekommen, auch die Mutter und der Bruder standen in der Tür und hörten zu. Kreuzkamp erhob sich, nahm meine beiden Hände in seine, wie er sie Vorjahren in die Hände genommen hatte, meine Hände mit dem schwarzen Fritz, und drückte sie sanft.
    Und das Schulgeld, sagte Mohren, ist auch frei.
    Mer wollen für et Heldejaad beten, ließ sich die Großmutter vernehmen und begann ein >Vater unser*. Kreuzkamp fiel mit fester Stimme ein, Mohren stand auf, Rosenbaum auch, zuletzt der Vater. Alle sprachen mit, nur Rosenbaums Stimme konnte ich nicht heraushören. Dann holte die Großmutter den Aufgesetzten vom Kellerbrett. Mein Gläschen schob ich unauffällig Rosenbaum zu.
    Jojo, ließ sich endlich auch der Vater vernehmen. Et is ald spät. Esch ben möd. Er nickte den drei Männern zu, drückte sich an den Frauen vorbei, an mir. Er sah mich nicht an. Ihn zu berühren, ihm zu danken, ich wagte es nicht.
    Rosenbaum, Kreuzkamp und Mohren gaben mir jeder zum Abschied noch etwas mit auf den Weg. Wie die Heiligen Drei Könige, spöttelte der Bruder später. Mohren sprach die ersten Zeilen des Gedichts, das er mir Vorjahren ins Poesiealbum geschrie ben hatte: »Geduld bringt Rosen. Es ist Geduld ein rauher Strauch voll Dornen aller Enden, und wer ihn kennt, der merkt es auch an Füßen und an Händen.* Aber, schloß er und zog mich am Ohrläppchen, der Kranz von Rosen ist dir gewiß.
    Kreuzkamp hatte eine kleine, weiße Karte für mich, nicht halb so groß wie ein Heiligenbildchen. »Johannes-Offenbarung* stand darauf, >2,17*. Zum Nachlesen, sagte er. Das, was für dich gerade das Richtige ist, wirst du schon verstehen. Ganz verstehen wir es ohnehin niemals. Nicht in diesem Leben.
    Zuletzt gab mir Rosenbaum die Hand. Er zog ein Reclamheft- chen aus der Tasche. Kennen Sie den Dichter Heine? fragte er.
    Die >Loreley<, antwortete ich, >Belsazar<. >Der Schelm von Ber- gen<. Und >Die Wallfahrt nach Kevlaar<.
    Dies ist eine Auswahl seiner schönsten Gedichte. Ich werde den Brief an die Schule gleich morgen schreiben. Lassen Sie bald von sich hören.
    Der Brief von der Schule kam an mich. Nicht an den Vater. Die Einladung zur Aufnahmeprüfung.
    Hast du denn vor der Prüfung keine Angst? fragte der Bruder. Ich verstand die Frage kaum. Die einzige Hürde, vor der ich gezittert hatte, war genommen. Was jetzt kam, war ein Kinderspiel.
    Ich machte den Weg an den Rhein zu Fuß. Hinterm Damm sauste der Wind durchs ausgefranste Schilf, stauchte es klappernd zusammen, fuhr den Weiden unter die Zweige, blies lange, kalte Töne durch die kahlen Pappeln. Bei der Großvaterweide schnürte ich den Matchbeutel auf. Warf ein Underbergfläschchen nach dem anderen in den Rhein. Sah die Flasche im Geschenkpapier lange an. Gesichter stiegen auf, wie sie in den Steinen aufgestiegen waren, viele Gesichter, die ich so nie mehr sehen wollte, boshafte, verschlossene, argwöhnische, höhnische, wutverzerrte, gehässige, spöttische, kalte Gesichter. Meines war auch dabei. Ich nahm einen Anlauf und schleuderte die Flasche von mir, die in einem tropfensprühenden Trichter versank,
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