Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das verborgene Wort

Das verborgene Wort

Titel: Das verborgene Wort
Autoren: Ulla Hahn
Vom Netzwerk:
und legte den rechten Mittelfinger auf den Mund. Den Zeigefinger hatte er als junger Mann in der Maggifabrik verloren, noch bevor er aus der Schweiz ins Rheinland gewandert war.
    Wir hörten die Wellen und gaben Antwort, sprachen die Wellensprache; doch niemals so gut wie der Großvater, den keine Zähne mehr störten, der schipp machte, schipp wie die Wellen. Schipp, schipp, das hieß Ja, wenn die Welle die Kiesel am Ufer überströmte, Nein, wenn sie sich zurückzog. Ja und Nein; Ja und Nein. Der Rhein wußte Bescheid. Beides gehörte zusammen. Fragte man im richtigen Augenblick, bekam man die richtige Antwort.
    Ganz wie die Menschen sprach der Rhein. Milde, wenn der Wind ihn nur leicht bewegte, herrisch und aufbrausend, wenn die Schleppkähne, bergehoch mit Kohle beladen, stromaufwärts tuckerten und ihre Wellen die verbotenen schwarzen Steinhaufen überspülten. Böse Riesen hätten die Haufen zusammengeworfen, um den Rhein aus seiner Bahn zu bringen. Aber die Kribben hielten den Rhein in seinem Bett, tobte er auch so zornig dagegen wie zu Hause der Vater.
    Lieber hörte ich auf den Wind in den Bäumen. Kein Baum rauschte wie der andere. Sie sprachen anders zu allen Jahreszeiten, und im Winter verstummten sie beinah ganz. Sichtbar brachte der Wind Schilf und Pappeln zum Reden, die auf seinen geringsten Anruf antworteten, als wollten sie ihm folgen. Lurt ens, sagte der Großvater, schaut mal, wenn im Frühjahr der Pappelsamen flog, do wandere de Boom.
    Wir sammelten flache Steine, nicht dicker als eine Graubrotscheibe, von der Großmutter geschnitten. Wenn der Großvater in die Knie ging und sie aus einer Drehung des Oberkörpers heraus übers Wasser schickte, war jede Berührung von Strom und Stein Station auf seiner Reise. Einmal, zweimal, dreimal; Kiesberg, Holtschlößchen, Großenfeld; Endstation der Elektrischen, die halbstündlich hinter unserem Garten in den Gleisen quietschte. Wollten wir Weiterreisen, mußten wir weiterzählen. Fünfmal ging es nach Rüpprich zum falschen Großvater, dem Stiefvaterdes Vaters, siebenmal war Schloß Burg. Zehnmal war Kölle. Ließ der Großvater einmal wie aus Versehen einen Stein, Plumps!, versinken, schrien wir Düsseldörp! Eine glatte Null.
    Bei unserer Weide sammelten wir Steine fürs Ritterspiel. Nie machten wir den ersten Ausflug im Jahr zu den Weiden, bevor wir nicht unter den größten und schönsten Busch, unter unsere Weide, die Großvaterweide, kriechen konnten und die Zweige über uns zusammenrauschten.
    Kleine, runde Steine brauchten wir zuerst, Zwerge und Diener. Sie mußten mich zu Kaisern und Königen, Prinzessinnen und Feen, den Bruder auf die Spuren finsterer Räuber und kühner Ritter führen. War ein grauer Spitzling ein Räuberhauptmann oder doch ein Kunibert, ein Ritter? Hexen waren rauh und bucklig, Feen warm und glatt. Die Königsbraut, weiß, seidig und eiförmig, wurde mit Erde eingerieben; grau und unscheinbar getarnt, hatte sie unter tiefhängenden Weidenzweigen ihrer Erlösung zu harren. Die kam mit dem König, dem sonderbarsten und dicksten Stein, einem Kaiser, wenn er durchlöchert war. In einer Weidenkutsche machte er sich auf die Suche nach einer Frau. Einmal um die Weide, wo der Großvater auf seinem Taschentuch saß, ging der Weg in die weite Welt, gefährlich bevölkert von düsteren Räubern, die wir gemeinsam mit Ritter-Kuniberten einen nach dem andern in den Sand streckten.
    Versteckte der Großvater die Königsbraut, vermuteten wir böse Mächte, bis er den Zauberstein aus seiner Westentasche zog und in die Sonne hielt, ein dunkellila Strahlenbündel, prächtiger als der Kranz der Maria im Kapellchen, das Auge Gottes in der Kirche, und ebenso allwissend. Immer blitzte der herrliche Stein dorthin, wo die Königin ihrer Entdeckung harrte. Frohgemut fuhr der Erlöser vor, lud die mit Erde Beschmierte auf und spülte sie hochzeitlich sauber in den Wellen des Rheins.
    Im Schloß unter der Weide spielten wir mit unseren Schilfrohrflöten zum Hochzeitsschmaus auf. Jedesmal tat der Großvater, als sei sie verschwunden, bis er sie schließlich aus dem Hemdkragen, dem Schuh, dem Ohr hervorzog oder einfach aus dem Ärmel schüttelte, seine Hohners-Mundharmonika. Ein Bienenschwarm brauste von seinen Lippen, der Großvater nickte uns zu, stampfte den Takt mit seinem gesunden Bein, und >Fuchs,du hast die Gans gestohlen<, >Hänsjen klein*, »Komm lieber Mai< schwang der König die Königin im Kreis. >Die Steine selbst, so schwer sie sind<, sangen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher