Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das verborgene Wort

Das verborgene Wort

Titel: Das verborgene Wort
Autoren: Ulla Hahn
Vom Netzwerk:
wir und schickten die entzauberten Ritter, Könige und Zwerge auf Wanderschaft ins Wasser.
    Nach einer Weile zauberte der Großvater seine Mundharmonika wieder weg und hexte Hasenbrote hervor. Köstliches Graubrot mit Rübenkraut oder Holländerkäse. Jede Scheibe einzeln wollte er den Hasen abgejagt haben. Von der Großmutter kam nur das Pergamentpapier. Das mußte man falten und wieder mit nach Hause bringen. War das Brot vom bösen Hasen, wollten wir wissen, dem mit den grausigen Zähnen und Ohren, so lang, daß er sie am Hinterkopf verknoten mußte, um beim Hakenschlagen nicht draufzutreten. Immer war es dem Großvater am Ende gelungen, den Hasen hereinzulegen, sei es, daß er sich ein grünes Taschentuch über den Kopf gelegt und der Hase ihn für einen frischen Kohlkopf gehalten hatte, sei es, daß es ihm geglückt war, dem Hasen Salz auf den Schwanz zu streuen. Jedesmal zog der Großvater sein Taschentuch oder ein Backpulvertütchen mit Salz hervor, seine Waffen, Beweis für Jagd und Beute.
    Nach dem Essen nahm der Großvater mich in seinen rechten Arm, den Bruder zwischen die Knie, und wir gingen auf Reisen zur alten Kopfweide zwischen Pappeln und Erlengestrüpp, ein paar Meter von uns entfernt.
    Nur dä Stamm, sagte der Großvater. Ich heftete meine Augen auf das rissige Anthrazit, die gekrümmte, schrundige Borke, die matt glänzenden, unregelmäßig gekerbten Rechtecke der Rinde, ihre Vertiefungen, holzigen Rinnsale, grün, wo der Wind das alte Holz feucht verfärbt hatte. Meine Augen öffneten die Weide, öffneten sich für die Weide, Weide wurde zu Augen, die Augen zur Weide, Augenweide. Stark und spielerisch, frei und beharrlich genoß ich jede Bewegung der Pupillen, vor und zurück, auf und nieder, Kreise und Winkel von dunklen und hellen Flecken, schwebend im Raum und tief in die Dinge getaucht. Wie viele Seiten hatte ein jedes Ding? So viele, wie wir Blicke für sie haben, sagte der Großvater.
    Regungslos lagen wir auf dem Rücken im Sand, wenn der Großvater befahl, die Augen zu schließen und die Ohren auszustrecken. An geschmeidigen Röhren fuhr ich meine Ohren in die
    Landschaft hinaus, näherte mich dem Erdboden, den zirpenden Grillen, ein betäubender Lärm, suchte nach stillen Fleckchen im Gras, hörte das beharrliche Trommeln seiner Wurzeln, das Zischen millionenfacher grüner Zungen, hörte die Käfer fressen, ein kleines Knacken, winziges Knistern, der Käfer kam näher, die Käferkiefer fragten: Wo bist du Biß, du, als wollten sie mich fressen. Ich zog die Ohren ein. Fuhr sie im hohen Bogen durchs zischelnde Schilf ins Sausen der Pappeln, hier einen Kuckuck schnappend wie der Fisch die Mücke, dort ein Bienensummen, Hummelbrummen, Libellensirren. Das Tuscheln der Wellen, ihr aufgeregtes Schlagen, wenn ein Kahn sich näherte, den Rhein hinauf oder hinunter, beladen oder leer. Mit meinen ausgestreckten Ohren lauschte ich es den Wellen ab; ließ die Ohren ein Stück weit auf den Kähnen fahren; das Flattern der Wäsche im Wind, das Bellen des Hundes an Bord, das Klappern der Töpfe aus der Kombüse, helle Frauenstimmen, die rauhen der Männer, Kindergeschrei. Über allem aber das Stampfen der Maschinen, so, daß ich die Ohren bald wieder zurückzog, sie hochfuhr, weit in den Himmel hinein, bis sie dort pendelten und an meiner Kopfhaut ruckten wie ein Luftballon in der Hand. Zwischen den Wolken schwangen sie oder standen einfach im Blau, kein schönerer Laut auf der Welt als die Sehnsuchtsstille des Himmelblaus, so süchtig machend nach einer Stille, die stillt, Sehnsucht stillt, daß ich die Ohren immer nur für Sekunden hoch oben lassen konnte, so sehr zerrten sie an meinem Kopf, als wollten sie ihn zu sich hinaufreißen. Langsam zog ich die Ohren dann wieder näher, durch Pappeln, Schilf und Gräser, bis ich tief in mir das Rauschen meines Blutes vernahm, den Herzschlag in meiner Brust. Der Großvater schnarchte.
    Im Kindergarten hob Aniana, die Kinderschwester aus dem Orden der Armen Dienstmägde Christi, jeden Nachmittag ein großes, schweres Buch aus einer Kommode, setzte sich damit in ihren hohen Stuhl, rückte das Fußbänkchen zurecht und las vor. Es war einmal, und es war immer wieder anders. So, wie es der Großvater auch immer wieder anders wußte; von den Pappelsamen, die von ihrer Reise zurückkehrten; von den Wellen und ihren Meeresabenteuern; von Hexen und Zauberinnen in den Bergen und Tälern bei Bingen und Bacharach; vom Dom ze
     

Kölle, Jan un Griet und den
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher