Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das verborgene Wort

Das verborgene Wort

Titel: Das verborgene Wort
Autoren: Ulla Hahn
Vom Netzwerk:
ließen sich in den Mund nehmen, man mußte sie nicht suchen, und sie verwelkten nicht. Jederzeit konnte man sie aus dem Kopf holen und sich vorsagen, mit und ohne Stimme. Lange glaubte ich, das Gelernte säße auf endlosen Regalen im Hinterkopf, ähnlich wie das Eingemachte im Keller. Mißtrauisch beobachtete ich im dreiteiligen Spiegel der Frisierkommode, ob sich mein Hinterkopf gehörig nach außen wölbte, um all das Schöne und Kluge speichern zu können, das ich wußte und noch wissen würde. Einmal in meinem Kopf, konnte es niemand wieder wegnehmen.
    >Eene meene muh, und aus bist du<, brachte mir Cousine Hanni bei, bald nach den ersten frommen Zweizeilern. Es gefiel mir weit besser als diese, vor allem weil die Cousine mich bei jedem >Du< mit der Hand vor die Brust stupste oder auf ihrem Schoß nach hinten kippte: aus bist du. Das war eine klare Sache. Was dagegen sollte das heißen, in den Himmel kommen? Herr Tröster, der Nachbar, hieß es, war im Himmel. Dort wohnten der liebe Gott und das ewige Glück. Trotzdem wollte keiner hin. Sogar geweint hatten alle, als Herr Tröster in den Himmel gekommen war. Denn er war nicht nur im Himmel, er war auch tot. Weg. Ich wollte nicht in den Himmel. Lieber eene meene muh. Aber die Großmutter verbot den Vers, dä Düvelskrom, und faltete mir die Hände.
    Wohin es mit mir einmal kommen würde, zeigten ja schon all die weißen Flecken auf meinen Fingernägeln. Jeder weiße Fleck bedeutete eine Todsünde. Bei Kindern unter sechs Jahren Tod-sünden in spe. Ach, du armes Kind, sagte die Frau vom Bäcker, nahm meine Hände in die ihren und zählte bis sechsundzwanzig. Un dat in däm Alter, seufzte sie, wobei ihre Augen einen verschwommenen Ausdruck annahmen. Armes Kind, wiederholte sie und schenkte mir eine zerquetschte Mohnschnecke. Sechsundzwanzig Todsünden in spe. Die Hölle war mir sicher. Aber erst mal eine ganze Mohnschnecke.
    Allein Gebete vermochten den Menschen von Grund auf zu bessern, nur sie konnten den lieben Gott erweichen, das Strafmaß zu verkürzen. Gebete waren bare Münze. Noch bevor ich in den Kindergarten kam, lernte ich das >Gegrüßet seist du, Maria< und das >Vater unser<, jedenfalls ungefähr. Bis ins Jenseits wirken konnte man mit Gebeten. Trippschers Liesjen, erzählte die Mutter, hatte ausgerechnet, daß sie dreieinhalb Jahre lang jeden Tag einen schmerzensreichen Rosenkranz und fünf >Vater unser< beten müsse, um ihrer Schwiegermutter, die ohne Beichte und letzte Ölung einem Schlaganfall erlegen war, aus dem Fegefeuer in den Himmel zu helfen. Ohne einen Pfennig. Mit Seelenmessen ging es zwar schneller, aber die kosteten und kamen daher nur in schweren Fällen zum Einsatz. Da die Schwiegermutter wohl nur mit läßlichen Sünden verblichen war, reichte beten. An den Schwiegervater hingegen verlor Liesjen nicht ein >Gegrüßet seist du, Maria<. Sie hatte den trinkfesten Raufbold nie leiden können und ließ ihn dort schmoren, wohin er schon zu seinen Lebzeiten hätte fahren sollen. Sparen konnte sie sich das Beten für ihren Josef selig, der bei Stalingrad verschollen war. Helden kamen direkt in den Himmel. Wie Heilige.
    Vor ihrer Heirat war die Großmutter bei Bürgermeister Waldemar Vischer in Stellung gewesen. Seit dieser Zeit hatte sie unumstößliche Ansichten über >Maniere<, teilte die Welt ein in Minsche, die Maniere han, und solche, die ken Maniere han. Aus Vischers Haushalt tauchten manchmal Dinge bei uns auf, sonderbares und prächtiges Strandgut. Kürzlich hatte Friedel, die jüngste Tochter der Bürgermeisterfamilie, jetzt verheiratet mit einem Sparkassenangestellten, einen Gegenstand aufgestöbert, den sie Laterna magica nannte, was sie so lange wiederholte, bis Mutter und Großmutter, ich und der Bruder es nachsprechen konnten.
    Am vierten Sonntag im Advent packte der Vater abends den Kasten aus, stellte ihn auf den großen Kochtopf und diesen auf den Beistelltisch im Wohnzimmer. Da stand dat Deng, wie der Vater es verächtlich nannte. Laterna majika, wies die Großmutter ihn zurecht. Der Bruder durfte die Adventskerzen ausblasen, der Vater machte die Kerze im Kasten an.
    An der Wohnzimmertür erschien in Augenhöhe ein weißer Fleck, etwa doppelt so groß wie unsere halbrunden Kellerfenster. Ah, machten Mutter, Großmutter und ich. Der Bruder quietschte. Das Tannengrün duftete, und der Großvater stopfte eine Pfeife. Die Großmutter verteilte das erste Spritzgebackene.
    Nu loß jöcke [2] , sagte die Mutter mit einer Stimme, die
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher