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Das verborgene Wort

Das verborgene Wort

Titel: Das verborgene Wort
Autoren: Ulla Hahn
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verriet, daß eigentlich noch eine ganz andere Mutter in ihr steckte. Jung und fröhlich und neugierig.
    Der Vater sagte nichts, aber er sah festlich und wichtig aus, wie er da in dem Pappkarton mit Glasscheiben hantierte, endlich eine herauszog und sie langsam von links in den Spalt des Kastens führte.
    Oh, machten jetzt alle, sogar der Großvater paffte nicht mehr, um das Bild auf der Wohnzimmertür nicht zu vernebeln. Dort war im kreisrunden Licht ein Baum zu sehen mit Blättern, die herabhingen wie ein riesiger Pilz aus Schilf, und darunter ein Heidenkind mit Baströckchen und einem Blumenkranz um den Hals. Plötzlich. Einfach so. Auf unserer Wohnzimmertür. Und der Papa hatte das gekonnt. Er konnte aber noch viel mehr. Dem lustigen Heidenkind unter der Palleme, wie der Vater sagte, folgte ein Heidenjunge mit einer Muschel in beiden Händen und dem gleichen ausgelassenen Lachen auf dem Gesicht. Dahinter schimmerte es blau wie im August.
    Heiden, sagte die Großmutter unbeeindruckt, mach wigger. Mach weiter. Su jät muß mer sich net anlure am hellije Advent. Aber der Vater ließ die Glasscheibe stehen, langte die Muschel vom Wohnzimmerschrank und legte sie mir in die Hand. Schon oft hatte ich um diese Herrlichkeit gebettelt, dieses weiß-bräunlich gekantete Schneckenhaus, dieses verschnörkelte Sahnehäubchen. Immer hatte der Vater gesagt: Dat mäs de nur kapott, undmir das Stück vor die Augen gehalten, kurz, aber lang genug, um mich vor Sehnsucht zum Weinen zu bringen. Nun hielt ich die Muschel in der Hand. Sie war schöner, als sie mir aus der Ferne je erschienen war. Ich hatte ja auch nie ihr Inneres gesehen, diesen rosasilbernen, blaumetallischen Glanz, nie diese schimmernde Glätte, diese seidige Kälte gefühlt. Was waren dagegen die Miesmuscheln vom Rhein!
    Su, sagte der Vater und griff nach der Muschel. Ich preßte sie an die Brust. Mit ungewöhnlicher Sanftheit nahm er sie mir aus der Hand und hielt sie an mein Ohr. Su, sagte er wieder, hal se fass.
    Ich umklammerte die Muschel mit beiden Händen.
    Hürs de? fragte er. Dat is dat Meer. Etwas toste und schlug an den Strand, brauste in meinen Ohren tausendmal lauter als die Pappeln auf dem Damm, und die Pallemen auf der Wohnzimmertür rauschten wie der Wind im Schilf am Rhein, und ein großer Vogel ergriff mich mit seinen Krallen und trug mich weit übers tobende Meer, dahin, wo die Heidenkinder lachten.
    Jitz es et ävver jut, protestierte die Großmutter.
    Jo, lommer wigger mache, stimmte die Mutter zu.
    Der Bruder griff nach der Muschel.
    Doför bes de noch ze kleen, wehrte der Vater ab und setzte die Muschel wieder auf den Schrank.
    Der nächste Kreis zeigte eine spitze Hütte, einen umgekippten Strauß, offenbar aus Blättern von diesen Pallemen. Daneben fünf, sechs höchst vergnügte Heiden.
    Häs de nix angeres als Heide, murrte die Großmutter.
    Die nächste Glasscheibe zeigte drei feine Damen in langen Kleidern und mit weißen Lockenhaaren. Perücke, sagte die Großmutter. Sie hatten hervorstehende Hintern, Höcker wie die Kamele auf den Sanellabildern. Lur ens, wat die für ene Popo han, kicherte ich.
    Dat is vornehm, sagte die Großmutter hochzufrieden, davon verstehs de nix.
    Den Damen folgten seltsame bunte Vögel. Papajeien, sagte der Vater.
    Dann kam ein Riegel mit Löwe, Tiger, Elefant.
    Hoppe Reiter, hoppe Reiter, quietschte der Bruder und streckte die Ärmchen nach der Tür.
    Wööd Zick, wird Zeit, dat mer schlofe jonn, sagte die Mutter.
    Nur noch eent, bettelte ich, und der Vater schob noch eine Glasscheibe ein.
    Mich sah er an. Mich wollte er fressen. Mich, den Düvelsbrode. Der Negerkopf, doppelt kellerfenstergroß, durch die Nase ein Knochen, die gefletschten Zähne spitz zugefeilt, Stirn und Wangen rot und ocker gestreift. Ich schrie. Verbarg den Kopf an der Schulter der Mutter. Schrie.
    Do sühs de et, lachte die Großmutter schadenfroh, so sinn [3] de Heide us. Nä, schön es hä nit.
    Ich schrie, strampelte mit den Beinen, den Kopf an die Schulter der Mutter gepreßt, die, mit dem einen Arm den Bruder haltend, mich mit dem anderen wegzustoßen suchte.
    Wat häs de dann? Dat is doch blos de Dür, sagte sie unwirsch.
    Der Bruder begann zu brüllen. Ich schrie. Konnte nicht aufhören. Ließ mich vom Stuhl plumpsen, schrie. Nur raus!
    Du blievs hie. Mit einem Ruck setzte mich der Vater zurück auf den Stuhl. Ooje op, Augen auf, befahl er. Seine Hand packte meinen Nacken und drehte meinen Kopf zur Tür.
    Ich hielt die Augen
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