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Das verborgene Wort

Das verborgene Wort

Titel: Das verborgene Wort
Autoren: Ulla Hahn
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Ich, das kräftige, starke, lindernde Ich, damit es mich durch diesen Abend leite. In letzter Zeit ließ es immer länger auf sich warten. Vorbei die Tage, wo ein winziger Schluck aus dem Kolben, ein einziges Fläschchen Medizin, ein Mundvoll grüner Geist mein Ich auf die Zehenspitzen gestellt, mein Selbstbewußtsein zum Ich geplustert hatte. Immer größere Mengen Zündstoff brauchte dieses Ich, ehe es in Erscheinung trat, sich seinen Auftritt verschaffte, oder auch nur mein ich soweit betäubte oder belebte, jedenfalls dergestalt bei der Hand nahm, daß es der Wirklichkeit gewachsen war. Ein paarmal war es ganz ausgeblieben, dieses Zehenspitzenhochgefühl, diese schwerelose Bewältigung der Wirklichkeit, dieses Gefühl, unverletzbar, allmächtig, göttlich zu sein. Ich setzte die Flasche zweimal an, zerbiß eine Handvoll Pfefferminz.
    Rosenbaum schnupperte, fragte, ob ich Halsschmerzen hätte. Nein, die hatte ich nicht, aber der Geist ließ mich heute wieder im Stich, ballte sich im Magen zusammen und drückte mir von dort die Luft ab, stieg einfach nicht weiter, verflüchtigte sich nicht in Vergeistigung, kreiste nur dumpf im Gehirn, trieb ein Räderwerk um und um, das klare Gedanken schon im Ansatz zermalmte. Ich hätte singen mögen, >Bella, bella, bella Maries laut und brüllend, oder einfach nur schreien, dreckige Wörter, >Scheiße, Pisse, Drisss am liebsten nur >Scheiße, Scheiße, Scheiße<, alles zudecken mit diesem Wort, alles begraben unter einem braunen, stinkenden Brei. Dabei unterhielt ich mich mit Rosenbaum, manierlich und unauffällig über den dreizehnten August, das Foto des Soldaten, der mit einem Satz über den Stacheldrahtin die Freiheit springt. Ich hatte ein Gedicht darüber geschrieben, damals, als der grüne Geist mir noch hold war. Wie lange war das her. In mir tobte das eine dreckige Wort, während aus meinem Mund nette Sätze flossen über Freiheit und Demokratie, süffig und sämig. Rede und Antwort stand ich, als gäbe ich Pfötchen, schönes Händchen, braves Mädchen, wußte kaum, was ich sagte, wenn es nur ganze Sätze waren, aufrechte Wörter, schön gesprochen, klar und deutlich, hochdeutsch, hochdeutsch über alles, hochdeutschlich ohne Ende.
    Einer warf die Musikbox an, Tische wurden zusammengestellt, >Come on lets Twist again<, alle Welt redete seit Wochen von diesem Tanz. Ich war eine der ersten, die aufsprangen, ich mußte sie loswerden, diesen Klumpen im Magen, das Räderwerk im Gehirn. Rosenbaum blickte mir kopfschüttelnd nach, mitten im Satz hatte ich ihn sitzenlassen, um mich zwischen die anderen zu drängen, mit ihnen in die Hocke zu gehen, die Arme über den Knien zu kreuzen, Hüften rechts heraus, Hüften links heraus, >twisting time is here<. Wir drückten den Twist noch einmal und zum drittenmal, >as we did last summer<, grölten mit und verrenkten uns immer verrückter, o ja, wir waren ins Leben getreten, jeden Tag traten wir neu ins Leben, mit jedem Schritt traten wir ins Leben, welche Lust, dem Leben mittenrein zu treten in die Fresse, den Magen, zwischen die Beine, >come on<, mit meinen eisenbeschlagenen Spitzen mitten hinein, >lets twist again<, >Scheiße, Pisse, Driss<, in jeder Bewegung zuckte und brüllte der Dreck aus mir heraus. Mein Gehirn war aus Glas, die grünen Geister hämmerten mit der Kraft von dreiundvierzig Kräutern, ich hörte die Glassplitter klirren. Die Tanzfläche war winzig, wir stampften auf der Stelle, genossen die Enge, die alte Vertrautheit, die gemeinsame Vergangenheit, die sich, weißt du noch damals, schon zu verklären begann. Doris' Haar war gewachsen, es fiel ihr bis über die Schultern. Ihr gebräunter Arm winkte mir über die Köpfe zu.
    Wer den Stuhl zum Kippen gebracht hatte, war nachher nicht mehr auszumachen. Einer hatte >Tutti Frutti< gewählt, >Kebabba- balubadibabbambuh<. Der Stuhl fiel um, und mit dem Stuhl fiel mein Matchbeutel um und mit dem Beutel die Flasche. Ich sah, wie Rosenbaum den Stuhl aufrichtete, den Beutel wieder dar- überhängte. Ich brüllte >Tutti frutti< und versuchte, mich zu Doris durchzudrängen. Jemand tippte mir auf die Schulter.
    Rosenbaum stand hinter mir, ergriff meine Hand und drückte mich auf meinen Stuhl mit dem Matchbeutel. Der Beutel tropfte und verbreitete einen verräterischen Geruch.
    Steh auf, sagte Rosenbaum leise.
    Zu spät, dachte ich.
    Stehen Sie auf, Fräulein Palm, wiederholte Rosenbaum lauter und ergriff den Beutel; es klirrte aus seinem tropfenden Innern heraus.
    In der Ecke
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