Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das verborgene Wort

Das verborgene Wort

Titel: Das verborgene Wort
Autoren: Ulla Hahn
Vom Netzwerk:
aus dem Paradies hat Sachen und Namen voneinander getrennt. Wir müssen sie wieder zusammenfügen. Dazu sind wir auf Erden. Richtig zusammenfügen. Nach bestem Wissen und Gewissen. Um die Wahrheit geht es im Leben. In jedem kleinen Leben, an jedem Tag. Nur dann kann das Wort etwas ausrichten. In der Wirklichkeit. Dazu sind Wörter da. Wörter sind ein Teil der Wirklichkeit. Wenn sie sich gegen die Wirklichkeit stellen, lügen sie. Die Wahrheit muß immer wieder neu aus dem Staub gezogen werden. Immer neu. Immer ein Stück weiter. Jede Lüge tritt sie wieder in den Staub. Eine Zeitlang kann man mit Wörtern die Wirklichkeit betrügen. So wie Sie mit Ihrem Spiritus verde und Ihrer Medizin. Aber irgendwann schlagen die Dinge zurück. Und manchmal ist es dann zu spät.
    Der Lehrer brach ab, stand auf und hob mein Gesicht, das ich, die Zähne zusammenbeißend, im Bademantel vergraben hatte, liebevoll am Kinn empor und rüttelte es sanft.
    Ach, du liebe Güte, sagte er, jetzt sehen Sie fast so grün aus wie Ihr Fusel. Spiritus verde, spiritus merde. Nun lachen Sie ruhig wieder. Vor allem aber: Erzählen Sie.
    Einmal steckte seine Frau den Kopf durch die Tür, schloß sie leise, kam dann wieder mit frischem Tee und Gebäck, goß uns ein, zog mich, unmerklich fast, an meinem Zopf, der über die Sessellehne hinabhing. Leichtfüßig, wie sie gekommen war, verschwand sie, einen feinen Geruch hinterlassend, den vertrauten Geruch des Bademantels, nach Minze, Honig und gerade gemähtem Gras.
    Als ich zu Ende war, tat die Uhr in der Diele zehn gedämpfte Schläge.
    Steh auf, sagte Rosenbaum und erhob sich. Reichte mir die Hand. Ich werde mit den Eltern reden. Dafür versprechen Sie mir eines.
    Er mußte nicht weiterreden.
    Ich nickte und heulte. Tränen der Erleichterung, der Dankbarkeit, der Erschöpfung. Doch Rosenbaum forderte mir nicht nur den Verzicht auf meine Geister, falsch, den Alkohol ab. Wort und Ding aufeinanderzulegen, so nah wie möglich, so wahr wie möglich, auch das mußte ich ihm versprechen.
    Frau Rosenbaum räumte schon die Tassen vom Tisch, ich steckte wieder in meinen verfärbten Kleidern, die inzwischen getrocknet waren, da faßte ich mir ein Herz. Die ganze Zeit über hatte ich Buchrücken vor Augen gehabt, die mit sonderbaren Zeichen bedeckt waren. Sie erinnerten mich an mein erstes Buch, den Buchstein vom Rhein.
    Ist das Griechisch? fragte ich. Ähnliche Zeichen glaubte ich im Lexikon bei Nachforschungen über Zeus gesehen zu haben.
    Nein, sagte Rosenbaum, das ist Hebräisch. Er nahm eines der Bücher aus dem Regal und legte es in meine Hände. Ich schlug es auf. Hörte von ferne die Stimme des Großvaters, die Stimme der Pappeln, der Wellen am Rhein. Sah die Zeichen, für mich ohne Sinn, und wußte doch, ich konnte ihnen vertrauen, wie ich den Zeichen im Stein vertraut hatte, als der Großvater sie für mich übersetzte.
    Bitte, murmelte ich. Lesen Sie. Ich möchte wissen, wie sich das anhört.
    Rosenbaum zog die Augenbrauen hoch und zusammen, bis die dichten Büschel fast in der Mitte seiner faltigen Stirn zusammenstießen.
    So, sagte er schmunzelnd. Sie wollen also schon wieder etwas wissen. Wie es sich anhört, wollen Sie wissen. Und nicht auch, was es bedeutet?
    Rosenbaums Gesicht veränderte sich noch einmal, wurde hell und weit und jung wie das Gesicht des Großvaters, wenn er vom lieben Gott und den Herrlichkeiten seiner Schöpfung erzählt hatte. Er stand auf.
    >Wayomer elokim yehi orr, waji orr. Wayarr elokim ett ha'orr ki toww, wayawdel elokim bejn ha-orr uwein hachoschech. Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Und die Erde war wüst und leer. Und es war finster auf der Tiefe. Und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser. Und Gott sprach: Es werde Licht. Und es ward Licht. Und Gott sah, daß das Licht gut war.<
    Bei den letzten Worten war seine Frau ins Zimmer gekommen.
    Es ist kühl geworden, sagte sie und legte mir einen breiten, buntgewebten Schal um die Schultern. Den bringen Sie bei Gelegenheit wieder mit. Augenzwinkernd fuhr sie ihrem Mann durchs Haar: Gut, daß unser Fräulein Palm nicht noch mehr wissen will. Die ersten Sätze gehen ja wirklich ganz flüssig.
    Rosenbaum fuhr mich nach Hause. Selbst ihm gelang es kaum, die Mutter zu beruhigen, als sie hörte, daß ich einen Unfall gehabt habe. Jott, jitz es dat Rad kapott, jammerte sie. Wat dat ald widder kost.
    Aber Ihre Tochter ist doch heil davongekommen, suchte der Lehrer die Mutter zu trösten. Unkruck verjeht nit, sagte die und
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher