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Das verborgene Netz

Das verborgene Netz

Titel: Das verborgene Netz
Autoren: Oliver Bottini
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ein Gast?
    Die Schritte verharrten vor Esthers Zimmer. Ein leises Klirren erklang, vielleicht Schlüssel, vielleicht Münzen in einer Hosentasche, ein Feuerzeug. Ein Messer, eine Pistole, die gegen einen Ehering stieß …
    Mike hob die Walther und schlug mit dem Griffstück gegen die Zwischenwand, einmal, noch einmal. Aus dem Lautsprecher war ein Rascheln zu hören, dann sprang auf dem Monitor Licht an. Esther saß auf dem Bett, erschrocken in seine Richtung blickend.
    Im Flur Stille.
    Lautlos trat Mike in den Eingangsbereich. Wieder das Klirren, leiser diesmal. Jetzt hörte er den Mann atmen.
    Ein Schritt, das Klirren, hastige Atemzüge.
    Das Schnappen des Riegels, als Mike die Zimmertür aufsperrte, kam ihm ohrenbetäubend laut vor. Nur schnell sein jetzt, dachte er und glitt in den Flur. Ein breites, ausdrucksloses Gesicht blickte ihm entgegen, nicht der Reptilienmann, niemand, dem er je begegnet war. Eine Waffe war nicht zu sehen, die Hände des Mannes steckten in den Jackentaschen. Jetzt fuhren sie heraus, doch Mike war schon bei ihm und schlug mit der Pistolenhand zu, ein zweites Mal, während der Mann mit einem Wimmern zurückwich. Mike fing ihn auf, als ihm die Knie wegbrachen, drängte ihn in Richtung Treppenhaus, den Gestank von Schweiß und Frittierfett in der Nase, eine Hand auf dem aufgerissenen Mund, die andere am Hinterkopf dagegen drückend, starrte in tränende Augen. Dicht aneinandergedrängt stolperten sie auf die Tür zu. Im Treppenhaus stieß er den Mann von sich, schlug erneut zu und noch einmal und noch einmal.
    Ächzend sackte der Mann zusammen.
    Als Mike sich über ihn beugte, nahm er im Rücken einen
Luftzug wahr, plötzlich lagen Arme wie stählerne Klauen um seine Brust, drängte sich ein massiger Körper gegen ihn. Eine Stimme an seinem Ohr, die seinen Namen flüsterte, dann sagte die Stimme: »Du musst hier weg, Mike.«
    Er ließ sich hochziehen.
    Die Arme gaben ihn frei. »Wir kümmern uns um ihn«, flüsterte die Stimme, und er drehte sich um und sah den Reptilienmann an und nickte.
    »Lebt er?«, fragte Gretzki, der in der offenen Tür stand.
    Blut aus den aufgeplatzten Lippen, aus der gebrochenen Nase, eine dunkelrote Lache unter dem Kopf, die Schläfe verfärbt. Arme und Beine lagen verdreht, Atembewegungen waren nicht zu erkennen.
    Der Reptilienmann kniete nieder und suchte den Puls. »Ein bisschen.«
    »Gehen wir, Mike«, sagte Gretzki.
     
    Eine Viertelstunde später saß er in seinem Wagen. Die Brandenburgische Straße, am Hotel vorbei, ein paar Minuten danach die Stadtautobahn im Samstagnachmittagsverkehr. Er hatte seine Sachen in die Reisetasche geworfen, das Hotel durch den Hofausgang verlassen. Gretzki würde das Equipment abbauen, die Rechnung bezahlen, morgen Esthers Zimmer säubern.
    Im Gehen hatte Mike ein letztes Mal auf den Monitor geschaut. Esther hatte das Licht wieder ausgeschaltet, war nicht mehr zu erkennen gewesen.
    »Nicht vergessen«, hatte Gretzki zum Abschied lächelnd gesagt. Mike hatte die Anspielung nicht gleich verstanden – Berlin, der Stress, Freiburg, die Hügel.
    Das Handy summte, Gretzki schrieb:
Hans Peter Steinhoff, Hamburg, freier Journalist. Mehr i.d. nächsten Tagen.
    Er antwortete nicht. Mit Steinhoff hatte er nicht gerechnet.
    Alles schien aus dem Ruder zu laufen.
    Der Funkturm dieses Mal von Osten, aber er warf nur einen kurzen Blick darauf. Dann war er auf der Autobahn und durchquerte im dichten Verkehr den Grunewald.
    Steinhoff lebte, würde in der Flurtoilette im dritten Stock erwachen. Falls die Polizei den Gast aus Zimmer 35 zur Fahndung ausschrieb, würde sie nicht weit kommen. Der Name war falsch, niemand hatte ihn gesehen, in diesem Augenblick kehrte er in die Dunkelheit zurück.

I Der Schutzengel
    1
    DIE TÜRKLINGEL RISS LOUISE BONÌ aus dem Traum, der sie seit ihrer Rückkehr Nacht für Nacht heimsuchte. Fünfunddreißig matte Gesichter, siebzig lustlose Augen, alle auf sie gerichtet. Sie stand vor einer grünen Tafel, Kreide in den weiß verfärbten Fingern der rechten Hand, starrte auf die Zeiger einer überdimensionalen Uhr an der Wand hinter den Polizeischülern, zählte die Sekunden und starb vor Langeweile. Niemand sagte ein Wort, niemand rührte sich, so vergingen die Stunden. Wertheim in der fränkischen Provinz hatte sich in ihr Unterbewusstsein geschlichen und wollte nicht wieder hinaus.
    Sie schlug die Decke zurück, setzte sich auf. 14 Uhr 45 , vielleicht Samstag, vielleicht schon Sonntag, in jedem Fall November. Der
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