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Das verborgene Netz

Das verborgene Netz

Titel: Das verborgene Netz
Autoren: Oliver Bottini
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Polizisten ebenfalls Probleme hatte, wenn auch andere als ihr Vater. In den Sechzigern und Siebzigern war ihr »der Staat« der ärgste aller Feinde gewesen, und die vergangenen Kriege ließen sich nicht so leicht vergessen. Weil Ben den Dienst 2004 freiwillig quittiert hatte, war sie letztlich zwar bereit, ihm eine Chance zu geben. Doch ein aufgebrachter Attac-Funktionär, ein desillusionierter Sozialpädagoge oder ein in Ehren
gescheiterter Fahrradkurierexistenzialist wären ihr lieber gewesen als ein ehemaliger Kriminalbeamter.
    In der Toilette rauschte die Spülung, in der Küche der Milchschäumer. Dann stand ihr Vater wieder vor ihr, die Tasse in der Hand. »Ich dachte, vielleicht lernen wir ihn heute kennen.«
    »Er ist gerade nicht in Freiburg.«
    »So?«
    Sie schwieg.
    Er stellte die Tasse vor sie und setzte sich. »Du siehst müde aus.«
    »Und du unglücklich.«
    »Nein, nein, Louise, es ist nur … Der Altersunterschied, weißt du, vierunddreißig Jahre, man muss verstehen, dass man unterschiedliche Interessen und Bedürfnisse hat.«
    »Wenn sie dich betrügt, schmeiß sie raus.«
    »Sie raus …?« Er brach ab. Schweigend sahen sie sich an, und für einen Moment empfand Louise ein Gefühl der Verbundenheit. Vater und Tochter, beide vom Ehepartner hintergangen – falls sie recht hatte –, beide am Ende gedemütigte Idioten.
    Sie räusperte sich. Zeit für ein paar offene Worte unter Leidensgenossen.
    Da hob ihr Vater einen Finger an die Lippen: Germain war im Anmarsch.
    »Wer ist eigentlich der Mann im Klo?« Germain stieg auf seinen Stuhl, schlug die Beine zum Schneidersitz unter. »Auf dem Foto.«
    »Ein … Freund von Louise«, erwiderte ihr Vater.
    »Er sieht aus wie ich.«
    »Aber nein, Germain, das bildest du dir ein. Noch einen Kakao?«
    »Er sieht trotzdem aus wie ich.«
    Ihr Vater griff nach Germains Becher. »Ich mache dir noch einen, ja?«
    »Wie heißt der Klomann?«
    Ihr Vater erstarrte in der Bewegung, erwiderte ihren Blick, Panik in den Augen. Sag es, Papa, dachte sie, sonst tu ich’s. Kein Freund, sondern ein Toter.
    »Äh, Klaus«, antwortete er. »Oder, Louise?«
    »Lustig«, sagte Germain. »Wie der Bekannte von der Mama.«
    Louise seufzte. Nichts hatte sich geändert. Wie sie selbst und der tote Germain wuchs der neue Bruder mit Lügen und Geheimnissen auf. Mit einer falschen Geschichte.
    Und wie früher spürte sie, dass sie das nicht ertrug.
     
    Gegen fünf streiften Vater und Bruder identische grüne Anoraks über, setzten identische blaue Wollmützen auf. Während der eine, die Hand schon an der Klinke, vor der Tür stand, hing der andere wieder an ihrem Hals und presste die Wange an ihre.
    »Kann ich heute bei dir schlafen?«, flüsterte er.
    »Nein«, flüsterte sie.
    »Warum?«
    »Ich muss doch morgen nach Berlin.«
    »Kann ich dann morgen bei dir schlafen?«
    »Nein. Aber bald mal, okay?«
    Die Locken flogen hin und her. »Morgen oder heute.«
    »Geht nicht.«
    »Du könntest dich ruhig auch mal um mich kümmern.«
    Louise sagte nichts. Ein Satz, den sie jahrelang im vorwurfsvollen Schweigen ihres Vaters zu hören geglaubt hatte, vor allem nach dem Tod Germains.
    Sie setzte den neuen Bruder ab, küsste ihn so zärtlich auf die Wange, wie es ihr möglich war. »Irgendwann mal, aber nicht jetzt.«
    Dann waren die beiden fort, während die Lügen und Geheimnisse und all die zwiespältigen Gefühle, die sie in ihr auszulösen pflegten, noch für eine Weile bleiben würden.
    Sie kehrte ins Wohnzimmer zurück. Der Tisch abgedeckt und abgewischt, Geschirr und Besteck gespült und in den Schränken verstaut, nur die Blumen erinnerten noch an den Besuch der neuen und alten Verwandtschaft aus Kehl. Sie setzte sich auf das Sofa. Wie immer empfand sie in solchen Momenten das Bedürfnis, sich ein Glas oder zwei einzuschenken. Die Vergangenheit wegzutrinken, so wie ihr Vater sie in seiner übertriebenen Pedanterie mit einem feuchten Küchenlappen wegzuwischen schien.
    Letzteres mochte funktionieren, Ersteres nicht.
     
    Um halb sieben rief Rolf Bermann an und erkundigte sich, wie der Nachmittag »mit den Kehlern« gewesen sei, und sie erwiderte, wie ein Nachmittag mit Kehlern eben so sei: ein wenig träge.
    Er lachte. Im Hintergrund brüllten Kinder – die Bermanns waren bei fünf angelangt –, bellten Hunde – zwei –, plärrten Fernseherstimmen – mindestens vier. Die Bermann’sche Sonntagsidylle.
    »Ruhe, Leute, ich telefoniere!«, rief Bermann dröhnend.
    Louise trat an die
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