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Das verborgene Netz

Das verborgene Netz

Titel: Das verborgene Netz
Autoren: Oliver Bottini
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Annaplatz war in Nebel getaucht, die Kirche ein schwarzer Schatten, vor den Straßenleuchten schräg fallende Regentropfen.
    Seit sie wieder in Freiburg war, schlief sie fünfzehn Stunden am Tag. An manchen Tagen lagen zwei Ausgaben der
Badischen Zeitung
vor der Tür. An manche Morgendämmerung schloss sich übergangslos die Abenddämmerung an. Zwei Monate Langeweile verkehrten den Lauf der Zeit.
    Ein Versuch, Buße zu tun. Im Sommer hatte sie im Dienst einen verhafteten Vergewaltiger geschlagen. Rolf Bermann hatte ihr die Selbstanzeige ausgeredet – eine Verurteilung hätte sie den Job gekostet – und hinter den Kulissen
verhandelt. Am Ende hatten sich Marianne Andrele, die Staatsanwältin, und Reinhard Graeve, der Kripoleiter, davon überzeugen lassen, dass sie wegen Erschöpfung und eines leichten Schocks nicht bei Sinnen gewesen war. Ein paar Wochen Urlaub und Wertheim waren der Kompromiss gewesen.
    Wenn sie geahnt hätte, dass in der fränkischen Provinz der Tod durch Ödnis drohte, hätte sie sich womöglich nicht darauf eingelassen. Die Wochenenden mit Ben in Freiburg hatten sie gerettet.
    In Bens Lieblings-T-Shirt und Lieblings-Shorts taumelte sie in den Flur. Auf dem Boden lagen Wollmäuse, Schuhe, Kleidung, Zeitungen, Pizzakartons, im Spiegel bewegte sich unter einem Dschungel dunkler Haare ein Gespenst. Ein paar Monate ohne die neonhellen Flure der Kripo, die gestressten Kollegen, die alltägliche Anspannung, und das ganze Leben war ein Chaos.
    Erneut klingelte es, dann drang aus der Gegensprechanlage eine zaghafte Stimme aus der Vergangenheit: »Louise, wir sind’s schon.«
     
    Zwei schüchterne kleine Männer, der eine hing seit Sekunden an ihrem Hals, der andere hielt Blumen und Kuchen in den Händen und wusste nicht, wohin damit.
    »Und deine Mami?«, flüsterte Louise.
    »Ist ein bisschen krank«, flüsterte ihr Bruder.
    »Wir sollen Grüße ausrichten«, sagte ihr Vater.
    »Was hat sie?«
    »Ach, eine Erkältung.«
    »Sie hat Traurigkeit«, flüsterte ihr Bruder.
    »Haben Frauen manchmal«, flüsterte sie. »Jetzt aber runter.«
    Die dunklen Locken flogen hin und her, die dünnen Arme schlossen sich fester um ihren Hals. »Keine Traurigkeit mit Blut.«
    »Louise, wo … «
    Sie wandte sich zu ihrem Vater um. »In der Küche.«
    Gemeinsam sahen sie ihm nach, Wange an Wange, die große Schwester, der kleine Bruder, dessen Namen auszusprechen ihr auch nach zwei Jahren noch schwerfiel. Der Name gehörte, genau wie die lockigen Haare und die skeptischen Augen, zu dem anderen, dem echten Bruder. Der war 1983 bei einem Autounfall ums Leben gekommen und 1996 ohne große Umstände ersetzt worden, soweit das mit einer anderen Frau möglich gewesen war.
    Seitdem gab es zwei Germains – einen toten und einen lebenden, der nichts dafür konnte, dass der Erste tot war. Dass ihr gemeinsamer Vater sieben Jahre gebraucht hatte, um Louise von der neuen Familie zu erzählen.
    »Hast du etwa vergessen, dass wir kommen?«, rief ihr Vater aus der Küche.
    Sie antwortete nicht. Germain, der nicht loslassen wollte, ihr Vater im Durcheinander ihrer Küche, ein bisschen viel für die schwergängigen Momente nach dem Aufwachen und dem Wertheim-Traum.
    Sie gähnte ausgiebig.
    Aus der Küche drangen Geräusche. Etwas klirrte, wurde über Holz geschoben. Ein Rascheln. Schranktüren klappten zu, Wasser lief. Schubladen rollten auf, rollten zu. Ein Räuspern, Stille. Dann wieder Wasser und das lustige Schnauben, das die fast leere Plastikflasche von sich gab, wenn man die Reste Spülmittel herauspresste.
    Seufzend schloss sie die Augen, sah ihren Vater am Spülbecken. Akribisch wurden die Hemdsärmel nach oben geschlagen,
dann tauchten die kleinen, schlaffen Hände ins Spülwasser. Sie fand das nur gerecht, auch ihr Vater sollte Buße tun. Wenn es nach ihr ging, für den Rest seines Lebens.
    »Na dann«, sagte sie, schleppte den neuen Germain mit ins Bad und warf die Tür zu.
     
    Die Blumen in einer Vase auf dem Esstisch arrangiert, eine Kerze angezündet, der Duft von frischem Café au lait. Dazu ein halbes Dutzend Kuchen- und Gebäckstücke, die aussahen, als stammten sie aus der Privatconfisserie des französischen Präsidenten. Wenn es ums Essen und Trinken ging, brach der Franzose in ihrem Vater durch, den er seit vierzig Jahren zu eliminieren versuchte. Der Akzent geschliffen, deutsche Spießigkeit antrainiert, die französische Familie ignoriert, und all das nur, um die sechziger und siebziger Jahre zu vergessen, die
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