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Das unsagbar Gute

Das unsagbar Gute

Titel: Das unsagbar Gute
Autoren: Christian Mähr
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machte. Man kann es in einem Satz sagen:
    Sami und S. waren Todfeinde.
    An jenem Herbsttag hatte es wieder eine Auseinandersetzung gegeben, die, wir müssen es leider zugeben, mit einer Niederlage Samis endete, das heißt, mit einer Flucht, wie es im Verhältnis 70 : 30 der Fall zu sein pflegte; die Flucht führte ihn zum Haus seines Menschen, der Frau Dr. Leupold, wohin zu folgen der Kater S. bisher nie gewagt hatte. (Die Katzenklappe war ihm unheimlich.) Aber jetzt stand die Tür offen. S., im Überschwang des Sieges, ließ alle Vorsicht fahren und folgte der Frau Dr. Leupold ins Haus. Von Sami war nichts zu sehen oder zu hören, der hatte eines seiner Verstecke aufgesucht, von denen es in dem alten Kasten mehrere gab. Kater S. dagegen vergaß Sami, die neue Umgebung erregte seine Katerneugier. Außerdem nahm er mit seinem sechsten Sinn die Aura der guten Dr. Leupold auf – und diese Aura war viel besser als die entsprechenden Auren aller Mitglieder der Familie Stauber. S. folgte der Frau in den ersten Stock, man kann sagen, auf den Fersen, wovon sie nichts bemerkte.
    An den Kater dachte sie nicht, nicht an den eigenen und schon gar nicht an einen fremden. Man darf sagen, dass es derDr. Leupold nicht vergönnt war, diesen fremden Kater jemals zu Gesicht zu bekommen. S. sprang hinter ihr auf den Tisch und machte das, was Katzen tun, wenn sie die Aufmerksamkeit eines Menschen erregen wollen. Er strich um ihre Beine. Und warum wollte er ihre Aufmerksamkeit erregen? S. erwog (man kann es nicht anders sagen) einen Wechsel seiner Götter, er war im Begriff, abtrünnig zu werden – der Grund dafür lag in der ungeheuer angenehmen Ausstrahlung der Frau Leupold. Wir können uns mit unseren begrenzten Sinnen davon so wenig eine Vorstellung machen wie vom vierdimensionalen Raum und müssen, wie in solchen Fällen üblich, zu einem notgedrungen hinkenden Vergleich Zuflucht nehmen: Frau Leupold verstrahlte ihr Wohlwollen den Felidae gegenüber wie ein wattstarker Propagandasender im Kalten Krieg; eine Katze wurde davon angezogen, auch wenn es ihr an ihrem Platz noch so gut ging. Kater S. ging es nicht wahnsinnig gut bei den Staubers. Er hätte den Mittelpunkt seiner Lebensinteressen ohne Zögern verlagert, er war dazu schon entschlossen, als er in den Bannkreis der Dr. Leupold geriet, er hätte sich sogar mit Sami vertragen, wenn es denn nicht anders ging (das ist allerdings, wie ich zugeben muss, Spekulation) – aber es kam anders.
    In dem Augenblick, als sich der Kater S. an ihren Unterschenkel schmiegte, trat Frau Dr. Leupold einen Schritt zurück. Die Birne hatte sie ausgetauscht, die kaputte hielt sie in der Hand.
    S. erschrak und flüchtete. Er konnte wie alle Katzen laute Geräusche nicht ausstehen, noch weniger laute unbekannte Geräusche. Das eine Geräusch von den zwei, die ihn erschreckten, hatte er zuvor nie gehört: wenn Gläsernes zerbrach, denn im Hause Stauber wurde nichts zerbrochen. Das zweite Geräusch, dumpfer tönend als die platzende Glühbirne und lauter, hatte er auch noch nie gehört. Denn in seinem Katerleben war noch nie etwas sechzig Kilo Schweres, Weiches aus Tischhöheauf den Fußboden gefallen. S. floh aus dem ersten Stock und aus dem Haus.
    Sami lag im zweiten Stock unter einem Regal neben der Dachbodentür. Im Haus blieb alles ruhig. Von seinem Menschen und dem anderen Kater war nichts zu spüren. Nach langer Zeit gab es neue Geräusche. Es war jemand im Haus. Ein Mensch. Nicht seiner. Sein Mensch bewegte sich anders, machte eine andere Art Lärm. Sami schlich die Treppe hinunter und näherte sich dem Esszimmer.
    Drin stand ein Mensch. Nicht sein Mensch. Sein Mensch lag auf dem Boden. Er kannte die Person. Sie stand nicht neben seinem Menschen, sondern etwas abseits an der Kommode, auf die Sami manchmal hinaufsprang, um an den Blüten zu knabbern, wenn dort neue Blumen standen. Er mochte den Geruch und Geschmack. Und die Farben. Sein Mensch hatte nie etwas dagegen gehabt. Der andere Mensch blickte zur Tür, als Sami hereinkam, ein Zufall, kommen hätte er ihn nie gehört. Dann begann der neue Mensch zu reden, Sami legte die Ohren leicht zurück. Er kannte die Stimme und konnte sie nicht ertragen. Zu hoch und zu laut, viel zu laut. Er wurde angesprochen, das war schon klar, Sami hin und Sami her, aber alles war falsch. Dieser Mensch mochte ihn nicht. Sami war alt genug, an den Stimmen der Menschen zu erkennen, wie sie es meinten mit ihm. Die hier meinte es nicht gut, aber nicht auf die
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