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Das Treffen in Telgte

Das Treffen in Telgte

Titel: Das Treffen in Telgte
Autoren: Günter Grass
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gewünscht. Dem adligen Hoffmannswaldau machte es geradezu Spaß, seine Gewohnheiten dem Bürger Dach unterzuordnen. Die Fürsten der Gelehrsamkeit – Harsdörffer in Nürnberg, Buchner in Wittenberg residierend – hätten sich den Kneiphöfischen Magister (bei Weinlaune) gern zum Regenten gewählt. Und weil der im Hofdienst gallig gewordene Weckherlin seit einigen Jahren nicht mehr dem englischen König, sondern als Staatssekretär dem Parlament verpflichtet war, fügte er sich dem mehrheitlichen Willen: mit allen anderen folgte er Dachs Zeichen, wobei der Alte den demokratischen Puritanismus seiner Wahlheimat ironisierte: Dort lehre ein gewisser Cromwell die Dichter Eisen fressen.
    Als einziger blieb der Student Scheffler fern. Ihn hatte es, noch während man bei der Suppe saß, durch das Emstor in die Stadt gezogen, wo er das Ziel der alljährlichen Telgter Wallfahrt, ein holzgeschnitztes Vesperbild, suchte: die sitzende Maria darstellend, wie sie starr ihren todesstarren Sohn hält.
    Als alle auf Bänken, Stühlen und, weil von denen nicht genug waren, auf Melkschemeln und Bierfässern unter der Balkendecke im Halbkreis um Dach versammelt saßen, kam durch die offenen Fenster noch ein Weilchen der Sommer zu ihnen und mischte sein Fliegengesumm in ihr abwartendes Schweigen oder halblautes Gespräch. Schneuber sprach auf Zesen ein. Weckherlin erklärte Greflinger das Chiffrieren von Agentenberichten, eine Kunst, die er in wechselnden Diensten entwickelt hatte. Von draußen hörte man die beiden Maulesel der Wirtin und entfernter die zum Brückenhof gehörenden Köter.
    Neben Dach, der sich einen Armsessel zugestanden hatte, wartete ein Schemel auf den Vortragenden. Symbolhafte Zeichen, wie sie den regionalen Vereinigungen gebräuchlich waren – die Palme der Fruchtbringenden Gesellschaft – waren nicht aufgestellt, zierten den Hintergrund nicht. Man hatte schlicht bleiben wollen. Oder es war ihnen kein zeichenhafter Einfall gekommen. Der mochte sich finden.
    Und ohne Vorrede, nur durch ein Räuspern sich Ruhe schaffend, rief Simon Dach als ersten Vortragenden den sächsischen Literaturmagister Augustus Buchner auf, einen schon älteren, rundum straffen Herrn, der sich zu allem nur vortragend mitteilen konnte und dessen Schweigen sogar einem Vortrag glich: er konnte sich dergestalt wuchtig ausschweigen, daß man seine stummen Perioden wie Redefiguren hätte zitieren können.
    Buchner las aus seinem in Abschriften weitverbreiteten Manuskript »Kurzer Weg-Weiser zur Deutschen Tichtkunst« das zehnte Kapitel vor: »Vom Masse der Verse und ihren Arten«. Diese Lektion versteht sich als Nachtrag zu Opitz’ theoretischen Schriften, handelt vom richtigen Gebrauch der »Dactylischen Wörter«, korrigiert den alten Ambrosius Lobwasser seligen Angedenkens, weil er in den »Alexandrinischen Vers falsche pedes miteingemengt« und gibt Beispiele zu einer Dactylischen Ode, deren vier letzte Verse trochaisch, nach Hirtenart, gesetzt sind.
    Verziert war Buchners Vortrag mit Verbeugungen vor Opitz – dem aber hier und da widersprochen werden müsse – und Sticheleien, die den abwesenden »Prinzenerzieher« Schottel, dessen Fürstenhörigkeit und schwärmerische Geheimbündelei betrafen. Ohne daß Abraham von Franckenberg genannt wurde, fiel das Wort »Rosenkreutzer«. Gelegentlich wechselte der Vortragende ins Gelehrtenlatein. Selbst in freier Rede war ihm in Zitaten alles geläufig. (Der Fruchtbringenden Gesellschaft angehörend, wurde er »Der Genossene« genannt.)
    Als Dach zum Disput aufrief, wollte sich anfangs niemand an der Autorität Buchners wetzen, obgleich die meisten Herren in Theorie beschlagen, im Handwerk und auf Versfüssen sicher, den kreuzqueren Feindschaften eingewoben, ungehemmt beredt und selbst dann zum Widerspruch gereizt waren, wenn ihnen Zustimmung auf der Zunge lag. Nur weil Rist mit Predigerton jede Kritik an Opitz »verwerflich und lästerlich« nannte, gab der Buchnerschüler Zesen zurück: So rede jemand, der nur stumpfsinnig »Opitzieren« könne: Der elbschwänische Meister der Opitzerei!
    Nach Harsdörffers gelehrter Verteidigung der Nürnberger Schäfereien, die er durch Buchner angegriffen glaubte, und Weckherlins Hinweis, er habe schon lange gegen Opitz’ Verbot und vor Buchner richtigen Gebrauch von dactylischen Wörtern gemacht, sonderte Gryphius ein wenig Bitterkeit ab: Solche Versschulen könnten allenfalls die seellose Vielschreiberei fördern; worauf ihm »Der Genossene« zustimmte:
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