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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel
Autoren: Eliot Pattison
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den Berg. »Ich werde nicht nach Peking gehen, um diesen Vorsitzenden zu besuchen«, rief er. Er drehte den Stab und bekam ihn sofort frei.
    »Also gut«, sagte der alte Tibeter zu Shan, nachdem er den Stab lange Zeit betrachtet hatte. »Wir machen es auf deine Art.«
    Shan neigte fragend den Kopf.
    »Du weißt schon«, seufzte Lokesh. »Wir werden auch weiterhin immer nur einen Gott auf einmal erneuern.«
    Shan sagte nichts, sondern nahm ihr Gepäck und folgte Lokesh, der den Pfad hinunterhumpelte. Sein alter Freund schaute immer wieder zum Berg Yapchi, pflückte dann eine violette Blume und beäugte sie schweigend.
    Nach einem knappen Kilometer blieb Lokesh stehen. »Falls wir nach Rapjung gehen«, rief er, »müssen wir den einfacheren Pfad um den Berg herum nehmen. Wegen meinem Fuß. Es tut mir leid.«
    Sie gingen am Wasserlauf entlang, bis sie einen kleinen Hügel erreichten. Lokesh hob die Hand, damit Shan stehenbleiben würde, setzte sich auf einen breiten Felsen, griff in die Tasche und zog das Schreiben an den Vorsitzenden daraus hervor. Verblüfft sah Shan ihm dabei zu, wie er den Brief entfaltete und zu lesen schien. Dann strich Lokesh den Zettel auf dem Felsen glatt und fing an, ihn neu zu falten. Er arbeitete mehrere Minuten an dem Papier, hinkte danach auf die Hügelkuppe und drehte dem Wind den Rücken zu. Shan ging hinterher, und als sein alter Freund den Arm ausstreckte, wurde ihm alles klar. Lokesh hatte aus dem Blatt eines seiner Geisterpferde gefaltet. Er wartete, bis Shan neben ihm stand, hob das Pferd über den Kopf und ließ es los. Im ersten Moment schwebte es träge in der Brise, aber dann riß eine plötzliche Bö es hoch empor und auf den nordöstlichen Horizont zu, in Richtung Peking.
    »Dieser Vorsitzende aus der Hauptstadt fährt vielleicht eines Tages durch die Berge«, sagte Lokesh mit zittriger Stimme. »Seine Limousine könnte eine Panne haben und er mitten in der Wildnis festsitzen. Wenn er dann mein Papier findet, wird es einen Zauber wirken, damit er auf einem guten tibetischen Pferd weiterreisen kann.«
    Sie blickten dem Zettel hinterher, bis er nur noch ein winziger Punkt am Himmel war und verschwand. Lokesh wandte sich zu der alten überfluteten Straße um und ging wortlos weg. Shan beobachtete eine Weile, wie sein alter Freund durch das zerklüftete Terrain davonhumpelte, und folgte ihm dann schweigend.
    Eine Stunde später blieb Lokesh am Ufer des rauschenden Baches aus dem Tal stehen, legte beide Hände um den Stab und musterte die Felsformationen eines niedrigen Grats auf der anderen Seite, ungefähr einen Kilometer entfernt.
    Shan bemerkte den Gesichtsausdruck seines Freundes und stellte die Taschen ab.
    »Dieser Felsen da«, sagte Lokesh langsam, kniff die Augen zusammen und rieb sich das stoppelige Kinn. »Er sieht fast so aus wie ein Stein, den meine Mutter mir mal beschrieben hat. Sie sagte, es habe sich in Wahrheit um einen Schildkrötengott gehandelt, der nur so tat, als sei er ein Felsblock, und der nachts über den Bergen flog.«
    Er sah Shan entschuldigend an. »Und sie sagte, er habe die Worte Buddhas gesprochen.«
    Shan betrachtete den schnellen flachen Wasserlauf, der sie von dem Gebirgsgrat und der weiten offenen Landschaft dahinter trennte. »Wir werden ziemlich lange brauchen, um nach Rapjung zu kommen, nicht wahr?« fragte er seinen Freund.
    Lokesh zuckte die Achseln. »Ich könnte unterwegs Kräuter sammeln«, schlug er vor, streckte Shan den Stab entgegen und balancierte auf dem gesunden Bein. »Und du solltest unbedingt lernen, wie man nach tonde sucht.«
    Shan mußte unwillkürlich lächeln. Durch den Stab des Lama fest mit der Erde verbunden, beugte er sich vor, ließ Lokesh auf seinen Rücken steigen, watete ins Wasser und trat die Suche nach dem Schildkrötenbuddha an.

Anmerkung des Verfassers
    Dieses Buch erzählt eine erfundene Geschichte, aber das Ringen des tibetischen Volkes um die Bewahrung seiner spirituellen und kulturellen Identität ist nur allzu real. Es gibt tatsächlich ein Büro für Religiöse Angelegenheiten, dessen kleine Armee von Bürokraten gegen religiöse und zeremonielle Aspekte des Alltagslebens vorgeht und Mönchen gemäß deren politischer Überzeugung Lizenzen erteilt, ungeachtet eventueller Glaubensfragen.
    Der Grund und Boden Tibets hat ebensosehr gelitten wie die Bevölkerung. Es ist kein Zufall, daß Tibet auf Pekings Landkarten Xizang heißt, das Westliche Schatzhaus. Heilige Berge wurden entwaldet und wegen ihrer
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