Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel
Autoren: Eliot Pattison
Vom Netzwerk:
persönlich festgestellten Sachverhalts leider unumgänglich.«
    Er klang nun sehr sachlich, als befänden sie sich bei einer militärischen Lagebesprechung. »Ich werde Verbotsschilder aufstellen lassen.«
    Shan und Lhandro starrten ihn ungläubig an. Die rote Schraffur bedeckte ein Gebiet von mindestens zweihundertfünfzig Quadratkilometern, darunter auch die gesamte Ebene der Blumen. Das entsprach der Größe eines Verwaltungsbezirks.
    »Ach ja, die Männer aus Norbu. Tuan wurde von der Öffentlichen Sicherheit weggebracht. Ein solcher Korruptionsfall bei einem leitenden Beamten.«
    Lin schüttelte den Kopf. »Er ist erledigt. Diesen Khodrak wird man in ein besonderes Kriecherinstitut stecken.«
    Er meinte eine medizinische Anstalt der Kriecher, in der widerspenstige Funktionäre - zumeist für ein paar Jahre - untergebracht wurden, damit Regierungsärzte durch Anwendung von Drogen versuchen konnten, sie von ihren gesellschaftsfeindlichen Neigungen zu kurieren. »Er wird nicht zurückkehren.«
    Lin faltete die Karte zusammen, gab sie Shan und musterte ihn einen Moment lang. Shan nickte zögernd. Der Oberst zog einen Umschlag aus der Tasche, reichte ihn ebenfalls weiter und ging dann wortlos zur Beifahrertür des Transporters.
    »Das verstehe ich nicht«, sagte Nyma an Shans Schulter.
    »Rapjung gompa und die Ebene der Blumen sind nun frei«, sagte Lhandro verblüfft und sah die Soldaten auf die Ladefläche steigen. »Wegen Anya.«
    Shan schaute zum Laster zurück. Lin stand vor der Tür und starrte jemanden an, der auf dem Trittbrett saß. Es war Dremu, und er hielt dem Blick unschlüssig, aber in gewisser Weise auch hartnäckig stand.
    »Dieser Mann behauptet, wir hätten seinen Großvater getötet«, sagte Lin müde, als Shan zu ihm kam.
    »Nicht Sie persönlich.«
    Shan sah, daß Dremu nervös an dem kleinen Lederbeutel herumfingerte, der um seinen Hals hing. »Es ist nur so, daß. Es ist nur so, daß ein Clan der goloks die Annahme einer Tributzahlung verweigert.«
    Lin wirkte ziemlich verwirrt, aber Dremu schien über diese Worte sorgfältig nachzudenken. Er nickte ernst, griff in den Beutel und holte eine einzelne schwere Goldmünze daraus hervor. Dann stand er auf, reckte die Münze hoch in Richtung Nordosten empor, als wolle er sie jemandem in der Ferne zeigen, und überreichte sie wie eine rituelle Opfergabe mit beiden Händen dem Oberst.
    Danach ging Dremu einfach weg, und sein Gesichtsausdruck ließ eine ungewohnte Regung erkennen. Es war nicht direkt heitere Gelassenheit, aber es kam dem vermutlich näher als jemals zuvor.
    »Er bezahlt uns?« fragte Lin.
    »Er gibt das Geld zurück. Es hat den Lujuns gehört.«
    »Was soll ich damit anfangen?« seufzte der Oberst.
    Shan mußte daran denken, zu welchem Zweck Lin das Steinauge benutzt hatte. »Sie brauchen einen neuen Briefbeschwerer«, schlug er vor.
    Lin zog eine Augenbraue hoch und blickte zu dem Grab. Gleich darauf erwachte dröhnend der Motor zum Leben. Ohne ein weiteres Wort stieg der Oberst ein, und der Lastwagen fuhr in hohem Tempo davon. Lin schaute aus dem offenen Fenster immer noch zu dem Grab zurück.
    Shan öffnete den Umschlag, den der Oberst ihm gegeben hatte, und las die einzelne Seite, die sich darin befand.
    »Was ist das?« fragte Nyma.
    Er las es noch einmal und wußte nicht so recht, was er antworten sollte. »Jemand ist gestorben«, sagte er und beobachtete, wie der Transporter das Tal verließ.
    Während die letzten der Projektmitarbeiter sich aus dem Tal zurückzogen, hielt die stille andächtige Stimmung der Tibeter noch den ganzen Tag an. Einige betrachteten das Wasser, das in der Nähe des neuen Grabes ans Ufer plätscherte. Andere halfen, in den Ruinen des Dorfs Yapchi Kochfeuer zu entzünden und Essen zuzubereiten.
    Nach der Abendmahlzeit kehrten alle zum See zurück und saßen dort, bis die Sonne unterging. Es trafen weitere Tibeter ein, die letzten derjenigen, die dem Mißverständnis aufgesessen waren und auf den oberen Hängen den alten Lama erwartet hatten. Sie tauchten die Hände ins Wasser und sprachen aufgeregt miteinander. Einige tranken davon, andere füllten kleine Schalen und schütteten sie über ihren Köpfen aus.
    Shan saß mit Lokesh an der Glut eines der Feuer, als Schweigen sich über das Lager senkte. Ein Hund bellte, und als Shan den Kopf hob, sah er einen purba , einen der hartgesottenen jungen Krieger, die er bei Norbu kennengelernt hatte. Der purba nickte erst Shan, dann Tenzin zu und trat beiseite. Im
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher