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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel
Autoren: Eliot Pattison
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in die Dunkelheit am Wasser hinaus, um die Sterne zu beobachten. Plötzlich fiel ihm ein Lichtpunkt auf halber Höhe des Hangs auf. Ein kleines Lagerfeuer. Er vergewisserte sich, daß niemand ihm folgte, und hielt dann eilig darauf zu.
    Als Shan im Morgengrauen aufwachte, sah er ein Dutzend Tibeter am Rand der Dorfruinen stehen und das Tal hinunterblicken. Dremu lief auf und ab und schien sich genau wie die anderen davor zu fürchten, dem Wasser zu nahe zu kommen. Shan gesellte sich hinzu und versuchte, aus Nymas und Lhandros Mienen klug zu werden. Die beiden standen ganz vorn. Dann seufzte Nyma auf, und er folgte ihrem Blick zum Wasser. Im heller werdenden Tageslicht begriff er endlich. Die Entstehung des Sees war abgeschlossen. Im Laufe der Nacht hatte das ansteigende Wasser die Lücke am Ende des Tals erreicht und floß nun über den Bergsattel hinaus. Damit stand der natürliche Pegel fest, und der unterirdische Fluß strömte weiterhin aus der Flanke des Berges. Der Bohrturm war umgestürzt und unter der Wasseroberfläche verschwunden. Auch der Grabhügel war nicht mehr zu sehen, desgleichen die Reste des Lagers. Der See lag still und funkelte wie ein blauer Kristall.
    Seltsamerweise fielen Shan die Worte Melissa Larkins wieder ein. Sie hatte sich mit Winslow am heiligen See treffen wollen, vermeintlich am Lamtso. Doch niemand kannte das Wasser, die Felsen und die Beschaffenheit des Landes so gut wie sie. Sie hatte gewußt, daß dieser See wie ein blauer Stern inmitten der Berge funkeln würde, auf genau die Art und Weise, die den Tibetern als heilig galt.
    Sie versammelten sich um das Kochfeuer, sprachen über die Bedeutung des Geschehens und sahen dann feierlich dabei zu, wie Shan einen kleinen, in Filz gewickelten Gegenstand zu ihnen brachte. Mit wissendem Blick streckte Lokesh beide Handflächen aus. Shan legte den Gegenstand darauf ab und öffnete das Bündel.
    »Den Göttern der Sieg«, murmelte Nyma.
    Lepka und Lokesh nickten lächelnd, als hätten sie nie daran gezweifelt, daß Shan das Auge am Ende zurückbringen würde.
    »Wer war es?« fragte Lhandro. »Wer hat dich überfallen?«
    »Das Auge ist wieder da«, lautete Shans einzige Erwiderung darauf. »Es wacht schon seit vielen Tagen über das Tal.«
    »Ja«, flüsterte einer der Dorfbewohner. »Wir haben es gehört.«
    Die Tibeter kamen näher, um den chenyi-Stein vorsichtig zu berühren und ihre Gebete darzubringen.
    Dann löste Nyma sich aus der Gruppe und starrte Shan an. »Aber was jetzt?« fragte sie mit großen runden Augen. »Die wichtigste Frage wurde noch nicht beantwortet.«
    All verstummten und sahen Shan an. Er mußte unwillkürlich lächeln. Etwas an Nymas Worten kam ihm ganz wunderbar vor. Trotz der Morde, der Lügen und der Zerstörung war für Nyma immer noch am wichtigsten, welchen Platz die Gottheit einnehmen sollte.
    »Ich kenne die Antwort mittlerweile«, verkündete Shan. »Der Berg hat einen Ort geschaffen, an dem Götter gern leben«, sagte er und fragte Lhandro, ob man hier irgendwo Pappelschößlinge schneiden könne.
    Zwei Stunden später zog eine kleine Prozession zum Ufer, wo nun ein rundes Boot aus hastig geflochtenen Pappeltrieben und Häuten lag, dazu zwei schmale Paddel, ursprünglich Bretter in einem der Häuser. Shan wickelte das Auge zum letzten Mal aus dem Filz und hielt den gezackten Stein hoch über den Kopf. Die Tibeter raunten aufgeregt.
    »Der tugendhafte Chinese«, sagte jemand voller Bewunderung. Die Worte ließen Shan kurz innehalten und an die Ereignisse der vergangenen Tage denken. Womöglich war letzten Endes Oberst Lin jener rechtschaffene Chinese gewesen, dem das Tal die Rettung verdankte. Oder der besagte Chinese setzte sich aus Teilen von Lin, Gang, Ma und Shan zusammen.
    Als Shan sich bückte, um eines der Paddel zu nehmen, verstummte die Menge. Verwirrt musterte er die erwartungsvollen Gesichter und verstand dann, daß er nicht allein aufbrechen sollte. Er reichte das erste Paddel an Tenzin weiter und nahm das andere Exemplar, ließ den Blick über die Menge schweifen und ging zu einem ausgemergelten Mann, der mit seiner Frau und zwei Kindern geduckt ein Stück abseits stand. Shan hatte sie letzte Nacht am Hang gefunden, wo sie mit der Trommel und dem Stein kauerten, und sie davon überzeugt, daß es nun an der Zeit war, ihr Versteckspiel zu beenden.
    Gang nahm wortlos das Paddel, und dann stiegen sie zu dritt in das Boot; die anderen verharrten in feierlichem Schweigen.
    »Es ist wie ein kostbares
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