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Das Schattenbuch

Das Schattenbuch

Titel: Das Schattenbuch
Autoren: Michael Siefener
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1. Kapitel
     
     
    Zunächst schien nichts an diesem warmen Sommertag
ungewöhnlich. Arved Winter war am Vormittag von Manderscheid
losgefahren, nachdem er Salomé und Lilith gefüttert
und den beiden Katzen ihre Streicheleinheiten gegeben hatte, und
hatte sich in seinem alten geerbten Bentley auf den Weg nach
Trier gemacht. Immer wenn er sich an das Steuer setzte, musste er
an Lydia Vonnegut denken, die Arved den großen Wagen
vermacht hatte – ihn, die beiden Katzen und ihr
Vermögen. Bei Lydia Vonnegut hatte es sich um eine
verbitterte alte Frau gehandelt, die Arved damals, als er noch
Priester gewesen war, auf ihrem langen und qualvollen Weg in den
Tod begleitet hatte.
    Er seufzte, als er den Wagen aus der Garage setzte und langsam
durch die schmale Straße fuhr. Lydia Vonnegut hatte seine
Zweifel am Priesterberuf und an Gott genährt und sich
teuflisch gefreut, als er von der Kanzel herunter erklärt
hatte, er habe den Glauben verloren. Seitdem war Arved Winter
suspendiert. Noch immer war er mit sich nicht im Reinen.
    Er lenkte den Wagen behutsam durch den kleinen Ort, fuhr am
Maarmuseum vorbei, an der ehemaligen Tankstelle, den beiden
Supermärkten auf der grünen Wiese und befand sich bald
zwischen Feldern und Weiden. Rechts von ihm erhob sich der
bewaldete Mosenberg, ein erloschener Vulkan, der ihm immer wie
eine unbestimmte Drohung vorkam.
    Lydia Vonnegut hatte er seine finanzielle Unabhängigkeit
und gleichzeitig sein berufliches Scheitern zu verdanken. Es
hatte ihn in die Hölle gestoßen, doch das war eine
andere Geschichte – eine Geschichte, die er immer wieder zu
verdrängen versuchte. Besonders heute wollte er nicht daran
denken. Der Mittwoch war stets einer Fahrt nach Trier gewidmet.
Jedes Mal überlegte er vorher, ob er über die Autobahn
fahren sollte, doch jedes Mal entschied er sich dagegen und nahm
die Landstraße. Dieser Weg war eindeutig der schönere,
und außerdem hielt die Vorfreude länger an.
    Die Vorfreude auf die Stadt, in der er lange gelebt und
gearbeitet hatte. Und die Vorfreude auf Lioba Heiligmann.
    Er hatte Lioba kennen gelernt, als er auf der verrückten
Suche nach Informationen über die Hölle und den Weg
dorthin gewesen war. Unwillig schüttelte er den Kopf und
versuchte sich auf das Fahren zu konzentrieren. Die Straße
wand sich hinunter in das Tal der kleinen Kyll und wartete mit
Serpentinen auf, die mancher Alpenpass nicht zu bieten hatte.
Diese Kurven trieben Arved immer wieder den Schweiß auf die
Stirn – und den Gedanken in den Kopf, vielleicht doch bald
einen nicht so schwerfälligen Wagen zu kaufen, auch wenn er
sich an den Geruch von altem Leder und Holz gern und rasch
gewöhnt hatte.
    Lioba…
    Als er auf der anderen Seite des Tals angekommen war und die
Straße endlich geradeaus führte, wanderten seine
Gedanken wieder umher. Sie flogen ihm voran nach Trier.
    Jeden Mittwoch besuchte er Lioba in ihrem kleinen,
baufälligen Haus. Jeden Mittwoch atmete er den Duft ihrer
Bücher und den Geruch ihrer Zigarillos ein. Jeden Mittwoch
kam und ging er mit Herzklopfen. Sie war mit ihm durch die
Hölle geschritten, sie hatte ihm beim Umzug nach
Manderscheid geholfen, sie hatte ihm ein Stück Leben
geschenkt.
    Arved fuhr durch Großlittgen, durch Minderlittgen und
Wittlich und nahm dann die Bundesstraße nach Trier, vorbei
an Salmtal und Hetzerath. In Schweich verdüsterte sich der
Himmel, und als er über die Mosel fuhr, fielen die ersten
Regentropfen. Sie waren nur die Vorboten eines Wolkenbruchs, der
die Welt hinter den Scheiben des Wagens zu einer verschwommenen
Unwirklichkeit machte. Arved erinnerte sich an einen anderen
Wolkenbruch, oben im Kunowald hinter Manderscheid, als er auf
jene Frau getroffen war, mit der sein schreckliches Abenteuer
begonnen hatte… Wann würden ihn diese Gedanken
endlich verlassen?
    Er fuhr langsam in Trier ein und stellte den Bentley am
Hauptfriedhof ab. Arved wollte nicht warten, bis es zu regnen
aufhörte. Er stieg aus, nahm den alten Stockschirm aus dem
Kofferraum, doch bis er ihn aufgespannt hatte, war er bereits
durchnässt. Er stieß einen kleinen Fluch durch die
zusammengebissenen Zähne, schloss den Wagen ab und ging in
Richtung Innenstadt.
    Dabei kam er an Sankt Paulin vorbei, wo er früher, in
einem anderen Leben – und als anderer Mensch –
Pfarrer gewesen war. Als er den gelb gestrichenen, hohen Turm
sah, drangen wie jeden Mittwoch widerstreitende Gefühle
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