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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel
Autoren: Eliot Pattison
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mache«, sagte er, als er sich niederließ, »würde ich sie gern sowohl auf tibetisch als auch auf chinesisch drucken. Und hin und wieder«, fügte er hinzu und zog einen vertrauten Bambusbehälter aus der Tasche, »würde ich gern über das Tao sprechen.«
    Lokesh und Shan machten sich vor Tagesanbruch auf den Weg, während die anderen noch schliefen. Als sie das Tal verließen, funkelten die letzten Sterne der Nacht auf der Oberfläche des Sees, und die erste Morgenröte ließ das Wasser erglühen. Im trüben Licht entdeckte Shan zwei Gestalten, die ihnen vom anderen Seeufer hinterherschauten. Sogar aus dieser Entfernung wußte er, daß es Tenzin und Lhandro waren. Der ehemalige Abt von Sangchi, der Tod und Wiedergeburt erfahren hatte, und der Bauer, dem das Tal genommen und zurückgegeben worden war. Die beiden Männer winkten zum Abschied und hoben wie als letzten Gruß eine lange Stange, an der eine Gebetsfahne hing.
    Als Shan sich am Vorabend in seine Decke gewickelt hatte, war Tenzin zu ihm gekommen, hatte sich hingekniet und ihn so lange schweigend angestarrt, bis Shan ihn fragte, ob er abermals die Sprache verloren habe.
    »Ich weiß nicht, ob ich jemals wieder eine solche Reise antreten werde wie die, die hinter uns liegt«, hatte Tenzin am Ende gesagt, Shans Hand genommen und sie fest gedrückt. »Aber falls es dazu kommt, bete ich, daß du bei mir sein wirst.«
    Als sie auf einem flachen Felsvorsprung eine Pause einlegten, um im Schein der Morgensonne kalten tsampa zu essen, erzählte Lokesh fröhlich, wie Rapjung wohl aussehen mochte, wenn er in einem Jahr zurückkehrte, und sprach dann von einem Nudelgeschäft in Peking, das Somo ihm empfohlen habe, weil er dort etwas zu essen bekommen würde.
    »Es gibt da einen Ort, an dem ich früher häufig gewesen bin«, sagte Shan zögernd. »Einen taoistischen Tempel. Wenn du kein Geld hast, geben dir die Mönche Nahrung und ein Nachtlager. Vielleicht erinnern sie sich noch an mich.«
    Lokesh sah ihn argwöhnisch an.
    Shan seufzte. »Ich werde dir den Weg aufzeichnen.«
    Lokesh lachte, und das Geräusch hallte von den Felsen wider. Shan spürte, daß die Wand, die zwischen ihnen emporgewachsen war, dahinschmolz. Angeregt unterhielten sie sich über Shans frühere Wohngegend und die Gefahren einer Stadt, in der so viele Autos unterwegs waren.
    Schließlich packten sie alles zusammen, und Lokesh zog sich an dem Stab hoch. »Ich gehe nach Peking!« rief er, offenbar aus keinem besonderen Grund. Aber als er den ersten Schritt machen wollte, rührte der Stab sich nicht vom Fleck. Er zog daran, erst vorsichtig, dann kräftig, aber ohne Erfolg. Der Stab klemmte in einem Felsspalt.
    Lokesh sah Shan aus großen Augen an und rieb sich den weißen Stoppelbart. »War dieser Riß im Felsen schon vorher da?« fragte er flüsternd. »Er ist mir nicht aufgefallen.«
    »Keine Ahnung, vermutlich ja«, sagte Shan verwirrt.
    Lokesh zog erneut, wiederum vergeblich, und ließ es dann Shan versuchen. Der Stab steckte fest. Lokesh drehte ihn, drückte dagegen, zerrte aufs neue. Immer noch nichts.
    Die Miene des alten Tibeters umwölkte sich auf seltsame Weise. Er setzte sich auf einen nahen Felsen und musterte den Stab - Jokars Stab -, der beinahe senkrecht aus dem Boden ragte.
    »Ich könnte Wasser holen und in den Spalt gießen«, bot Shan an.
    »Das ist es nicht«, versicherte Lokesh und stimmte ein Mantra an. Nach fünf Minuten versuchte er sich wieder an dem Stab, aber immer noch mit dem gleichen Ergebnis. Er legte beide Hände um das Ende der Stange und schaute zum Gipfel des Bergs Yapchi. »Viele Menschen in Peking müssen geheilt werden«, rief er. »Sie leiden an Herzwind, es gibt dort eine regelrechte Epidemie.«
    Der Stab rührte sich nicht.
    »Ich werde dir einen anderen Stab suchen«, sagte Shan. »Vorerst kannst du dich auf meine Schulter stützen.«
    Lokesh sah ihn nicht an, sondern schüttelte nur heftig den Kopf. Er sagte noch ein Mantra auf und ließ den Gipfel dabei nicht aus den Augen, als würde er ein Zwiegespräch führen. Nahezu eine Viertelstunde verging, dann startete er den nächsten Versuch und konnte den Stab noch immer nicht lösen. Schließlich legte er den Kopf auf die Arme, die weiterhin den Stab hielten, und seufzte. Müde wandte er sich zu Shan um. »Damit hätte ich nie gerechnet«, sagte er, ließ los und setzte sich wieder auf den Felsen. Fast fünf Minuten starrte er auf seine Hände, dann kehrte er zu dem Stab zurück und fixierte entschlossen
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