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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel
Autoren: Eliot Pattison
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Juwel«, sagte Tenzin über das wunderschöne Wasser.
    Gang wiederholte die Worte.
    Sie paddelten in die Mitte des Sees zu einer Stelle zwischen dem Bohrturm und dem Grabhügel, die nun mehrere Meter unter Wasser stand. Dann winkte Shan Gang zu sich. Die grämliche Miene des Mannes leuchtete auf, und er nahm voller Freude das Auge entgegen. Er streckte es in Richtung der Leute am Ufer, senkte den chenyi-Stein ins Wasser und ließ ihn los. Shan schaute dem Auge hinterher, wie es in das funkelnde kristallklare Wasser hinabsank, sich im gefilterten Licht blau färbte und verschwand. Tief ist das Auge , hatte das Orakel gesagt, das strahlendblaue Auge, die nagas werden es behüten.
    Als sie zum Ufer zurückkehrten, hielten Lepka und Lhandro Schalen mit Tee bereit. Sie gingen an einem kleinen Kreis aus Männern und Frauen vorbei, die ein Mantra rezitierten, und ließen sich in einem der Gerstenfelder auf einer Decke nieder. Tenzin stellte Gang Fragen über die Aufbauarbeiten in Rapjung. Shan lehnte sich in der warmen Morgensonne zurück und schlief bald darauf ein.
    Mehr als zwei Stunden später erwachte er und hörte vom Ufer geschäftiges Treiben, dazu das Lachen von Kindern. Er setzte sich auf, rieb sich die Augen und war dermaßen überrascht, daß es einen Moment dauerte, bis er begriffen hatte. In der Nähe des Sees hingen nun Seile voller Gebetsfahnen, aufgespannt zwischen Stangen und Steinhaufen. Vom Holzvorrat des früheren Öllagers wanderten Baumstämme über den Grund des Tals, ein jeder getragen von drei oder vier Tibetern, Männern wie Frauen. Viele neue Gesichter hatten sich eingefunden. Shan sah, wie eine weitere kleine Gruppe den Bergkamm überquerte und zum See hinunterlief. Alle Träger der Baumstämme steuerten mit ihrer Last eine bestimmte Stelle am Ufer an, wo eine Frau, eine unbekannte Nonne, eine Schale ins Wasser tauchte und jeden der Stämme damit benetzte, als wolle sie ihn taufen oder segnen.
    Shan kam vorsichtig näher, blieb aber in zehn Metern Entfernung stehen. Nyma hatte ein Gewand gefunden, sich die langen Zöpfe abgeschnitten und das Haar kurzgeschoren, wie es in einem Kloster üblich gewesen wäre. Als sie Shan sah, blitzten ihre Augen auf. Demnach war sie am Ende doch zu der Einsicht gelangt, daß sie eine echte Nonne sein konnte. Er winkte ihr verhalten zu, und sie deutete lächelnd zum Südende des Tals.
    Die Stämme wurden nicht zu den Ruinen des Dorfs Yapchi transportiert, wie er vermutet hatte, sondern weiter zu dem Pfad, der auf den Berg führte. Ein Kind lachte. Shan drehte sich um und sah Gangs Tochter, die rittlings auf einem der Stämme saß, den drei kräftige Tibeter freudig auf den Schultern trugen. Die Bäume, die das Ölprojekt gefällt hatte, wurden alle nach Rapjung geschafft. Man brachte sie über den Berg, um dort das neue gompa zu errichten.
    »Wir haben den letzten Gebetskreis abgehalten«, erzählte Nyma aufgeregt, als Shan zu ihr ging. »Der Gebetskreis, der damals in der Schlucht angefangen hat. Die Leute haben nie damit aufgehört, sagen sie. Sie sind in eine Höhle hoch über dem Tal gegangen und haben weitergemacht, rund um die Uhr. Nach der Rückkehr des Auges wußten sie, daß sie nun endlich aufhören konnten. Ich habe mich am Ufer zu ihnen gesellt, und als sie fertig waren, habe ich sie gebeten, mir die Haare abzuschneiden«, verkündete sie heiter.
    Unterhalb des Sees, in der Nähe des Dorfes, fand Shan seinen alten Freund und Lhandro wieder. Lokesh saß auf einem Felsen und deutete auf die Felder, während der rongpa ihm aufmerksam zuhörte.
    »Keine Gerste mehr«, rief Lhandro, als er Shan sah. »Es wird nun wieder wie früher, nichts als Heilkräuter für Rapjung. Und Lokesh hat uns alles aufgezeichnet, so daß man die Kräutergärten beim gompa ebenfalls an den alten Stellen wiederaufbauen kann. Die Menschen werden in Körben fruchtbare Erde aus den Tälern heranschaffen. Wir werden von hier auch welche schicken.«
    »Die Zeichnungen sind bestimmt hilfreich«, sagte Shan zögernd, »aber noch besser wäre es, jemanden dabeizuhaben, der das alte gompa gekannt hat.«
    Lokesh sah ihn ruhig an. »Und genau dort wirst du mich finden. In ungefähr einem Jahr. Vielleicht schon etwas früher.«
    »Wir haben nur wenig Geld, aber wir haben angeboten, es ihm zu überlassen, damit er per Bus reisen kann und schnell wieder hier ist«, sagte Lhandro. »Doch er hat sich geweigert. Er sagt, er müsse als Pilger nach Peking ziehen. Wenn er Hunger bekommt, will er
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