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Die Loewin von Mogador

Die Loewin von Mogador

Titel: Die Loewin von Mogador
Autoren: Julia Drosten
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Kapitel
eins - London im Juni 1835
     
    „Wo ist mein Vater?“
    Den fünfzehn Angestellten, die im Kontor der
Reederei Spencer & Sohn Mittagspause machten, blieb vor Überraschung fast
der Bissen im Halse stecken.
    Sibylla Spencer stand sichtlich außer Atem in
der Tür, drückte einen Briefumschlag an ihre Brust und blickte von einem zum
anderen. Gewöhnlich kam die dreiundzwanzigjährige Tochter des Chefs nur einmal
im Jahr zur Reederei, und zwar wenn sie zusammen mit ihrer Stiefmutter
Weihnachtsgeschenke an die Arbeiter und Angestellten verteilte.
    Doch jetzt war nicht Weihnachten, sondern
Juni. Und wenn Sibylla unangekündigt, völlig aufgelöst und offenbar ohne
Begleitung in der rauen Männerwelt des Londoner Hafens auftauchte, konnte das
nichts Gutes bedeuten. Das jedenfalls befürchtete Mr. Donovan, der leitende
Buchhalter der Reederei. Zögernd trat er hinter seinem Pult hervor.
    „Ihr Vater ist im Ledgerhaus bei einer
Versammlung der Dockgesellschaft, Miss Spencer. In spätestens einer halben
Stunde müsste er wieder hier sein. Wünschen Sie auf ihn zu warten? Peter“, er
winkte einem der Schreiberlehrlinge, „hol Miss Spencer einen Stuhl!“
    Sibylla schüttelte ungeduldig den Kopf, da
ertönte von einem Pult am Fenster eine andere Stimme: „Die Angelegenheit
scheint eilig. Wenn Sie erlauben, Miss Spencer, bringe ich Sie hinüber. Ich
wollte ohnehin gerade zu den Docks.“ Ein hochgewachsener junger Mann mit
auffallend gebundener Seidenkrawatte, modisch enger Weste und auf Hochglanz
polierten Schuhen nahm eine Ledermappe von seinem Pult, ging zu Sibylla und
verbeugte sich knapp, was aufgrund seiner Größe wirkte, als klappte ein
Taschenmesser zusammen.
    „Benjamin Hopkins“, verkündete er mit leicht
näselnder, arrogant klingender Stimme. „Wenn Sie erlauben, leitender Einkäufer
Ihres verehrten Vaters.“
    Der Buchhalter zog sich erleichtert zurück.
In Benjamins Rücken erhob sich Gemurmel. Er spürte die Blicke der anderen wie
Nadelstiche im Rücken. Mit gerade achtundzwanzig Jahren war es Hopkins
gelungen, sich zur rechten Hand des Reeders und Kaufmanns Richard Spencer
hochzuarbeiten. Aber genau das machte ihn zu einem unbeliebten Kollegen. Nie
versäumte er, dem Chef von Fehlern zu berichten, die einem von ihnen
unterlaufen waren. Dazu kamen sein gelacktes Äußeres und seine affektierten
Reden, die er wohl für vornehm hielt, die die anderen aber lächerlich fanden.
    Doch wenn Benjamin jetzt unter seinem hohen
weißen Hemdkragen warm wurde, lag das nicht daran, dass ihn die Feindseligkeit
seiner Kollegen gestört hätte. Vielmehr musterten Sibyllas saphirblaue Augen
ihn so durchdringend, dass er sich zwingen musste, ihrem Blick standzuhalten.
Lange betrachtete sie ihn stumm, und gerade als er fürchtete, sie würde sein
Angebot ablehnen, nickte sie. „Einverstanden, Mr. Hopkins.“
    Benjamin atmete auf, halb erleichtert, halb
triumphierend. „Dann hoffe ich nur noch, dass Sie Ihrem verehrten Vater keine
schlechten Nachrichten überbringen müssen“, sagte er und blickte auf den Brief
in ihrer Hand.
    „Das dürfte Sie wohl kaum etwas angehen, Mr.
Hopkins.“ Sie machte kehrt und lief die Treppe hinunter. Benjamin nahm rasch
seinen Gehrock vom Haken neben der Tür und schlüpfte hinein, als er eine Stimme
hörte – leise, aber doch klar und deutlich: „Schaut euch nur den Speichellecker
an! Jetzt kriecht er der Tochter vom Alten unter den Rock.“
    Aus dem Erdgeschoss ertönte Sibyllas Stimme.
„Wo bleiben Sie, Mr. Hopkins? Ich habe es eilig!“ Hocherhobenen Hauptes, schritt
er durch die Tür.
    Sibylla saß bereits auf der Bank ihres
eleganten zweirädrigen Gigs, die Leinen in einer Hand, und klopfte mit der
anderen auf den freien Sitzplatz neben sich. „Nun kommen Sie schon, Mr.
Hopkins! Oder schätzen Sie es nicht, wenn eine Frau die Zügel in der Hand
hält?“
    „Um Gottes willen!“, rief er aus und
kletterte neben sie. „Es ist mir eine Ehre, von Ihnen gefahren zu werden!“
    „Übertreiben Sie nicht, Mr. Hopkins!“ Sie
schnalzte kurz, und die braune Hackneystute zog so schwungvoll an, dass er das
Gleichgewicht verlor und gegen die Rückenlehne fiel. Sibyllas Mundwinkel
zuckten spöttisch. Aber so etwas konnte Benjamin nicht verunsichern.
    Seit Jahren beobachtete er bei den
Weihnachtsfeiern im großen Kontor der Reederei, wie Sibylla vom flachbrüstigen
Backfisch zu einer reizvollen jungen Frau wurde. Anfangs hatten die Bewerber um
ihre Hand Schlange gestanden. Aber mit
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