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Die Loewin von Mogador

Die Loewin von Mogador

Titel: Die Loewin von Mogador
Autoren: Julia Drosten
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beiden reich geschnitzten und bunt bemalten
Achterdecks über dem Hafenbecken. Darüber hing das rote Georgskreuz auf weißem
Grund, die Fahne Englands.
    „Hat sie keine Galionsfigur?“, fragte sie und
warf Benjamin einen herausfordernden Blick zu. „Keine nackte Seejungfrau?“
    Wieder spürte er, wie ihm der Schweiß unter
seiner Hemdbrust ausbrach. Aber er spielte den Überlegenen und antwortete.
„Wenn es eine gibt, dann vorn am Bug. Sollen wir nachschauen?“
    Sie lächelte nur, legte den Kopf in den
Nacken und betrachtete die drei himmelwärts ragenden Masten mit ihrer gerafften
Takelage und den Ausgucken in schwindelerregender Höhe. Da tauchte ein
stoppelbärtiger Mann neben dem Gig auf und bellte: „Gaffen können Sie anderswo!
Wir müssen hier abladen!“
    Sie standen direkt neben dem Kran und
behinderten die Arbeiter, die die Netze mit den Rumfässern in Empfang nehmen
wollten, die aus dem Bauch der Queen Charlotte befördert wurden. Sibylla
schnalzte und trieb ihre Stute rasch weiter. Wieder tänzelte das Pferd nervös,
doch abermals gelang es ihr, das Tier zu beruhigen. Sie hielten nun direkt vor
der aus einer schmalen Planke bestehenden Gangway ungefähr in der Mitte des
Schiffes. Von hier betrachtet, wirkte die Queen Charlotte noch größer. Sibylla
schätzte ihre Gesamtlänge auf mindestens hundertfünfzig Fuß. Sie betrachtete
den breiten Leib des Seglers, der aus dunklem Holz gefertigt, wuchtig und
wehrhaft wirkte. Ein Eindruck, der von den sechs Kanonenrohren, die durch ihre
Luken hindurch direkt auf Sibylla zielten, noch verstärkt wurde.
    „Dort oben steht Nathaniel Brown, der
Kapitän.“ Benjamin wies auf einen breitschultrigen Mann im dunkelblauen
Uniformrock der Reederei Spencer und mit einem tief in die Stirn gedrückten
schwarzen Zweispitz.
    Sibylla betrachtete den Mann. Seine
Gesichtszüge waren hart und ohne Regung, von Wind und Wetter scharf gegerbt. Er
stand an der Reling und verfolgte aufmerksam, wie ein neues Netz mit Rumfässern
über das Deck der Queen Charlotte in Richtung Kai schwebte.
    Benjamin räusperte sich: „Wir sollten nun
Ihren Vater suchen. Ich werde einen der Fuhrwerker fragen, ob er bereit ist,
ein paar Minuten auf Ihren Wagen aufzu...“
    „Achtung!“, brüllte in diesem Moment Kapitän
Brown und beugte sich weit über die Reling. „Weg da unten! Schnell!“

Kapitel
zwei
     
    Richard Spencer trat mit zwei Begleitern aus
dem Tor von Speicherhaus drei. Einer war der stellvertretende Präsident der
West India Dock Company und damit nach ihm selbst der Mann, der in der
Gesellschaft am meisten zu sagen hatte. Der andere war ein Ingenieur, den
Spencer herbestellt hatte, damit er prüfte, ob im Lagerhaus bauliche
Veränderungen vorgenommen werden mussten, um die Temperatur und
Luftfeuchtigkeit zu gewährleisten, die für die Lagerung von Getreide und Leder,
den Hauptausfuhrgütern Marokkos, erforderlich waren. Als keine zwanzig Meter
von ihm entfernt Geschrei ertönte, blickte er kaum hin. Geschrei gehörte auf
den Docks zum Alltag. Dann sah er den Gig und blinzelte irritiert. Was hatte
dieses sportliche kleine Gefährt auf den Docks zu suchen? Das war doch eine
Damenkutsche, wie sie auch seine Tochter besaß! Er blinzelte noch einmal,
erkannte Sibylla und murmelte: „Was in Gottes Namen …“
    Zwei Arbeiter rannten auf den Gig zu. Sie
brüllten aus Leibeskräften und zeigten fuchtelnd nach oben. Spencer folgte
ihnen mit den Augen, und ein entsetzter Ausruf entfuhr ihm: „Sibylla! Pass
auf!“ Er rannte los, obwohl er wusste, dass er zu spät kam.
    Genau in diesem Moment hörte Benjamin das
Knarren des Netzes. Als er nach oben blickte, stockte ihm der Atem. Der
Greifarm des Lastenkrans schwebte fast genau über ihnen, und an der Eisenkette
schaukelte von einem dicken Haken gehalten, das Netz mit den Fässern darin. Bei
jeder Bewegung rieben sie knirschend aneinander. Sechs Rumfässer, von denen
jedes hundert Liter fasste und einem ausgewachsenen Mann bis zur Hüfte reichte.
Jetzt ruckte das Flechtwerk und neigte sich an einer Seite gefährlich abwärts.
Mindestens zwei der zum Bersten gespannten Stricke waren gerissen, erkannte
Benjamin, und ein eisiger Schreck durchfuhr ihn.
    „Los!!“, brüllte er, beugte sich zu Sibylla
und wollte ihr die Leinen aus der Hand reißen. „Fahren Sie los!“
    Im gleichen Moment rutschten die obersten
beiden Fässer durch das Loch im Netz. Mit einem ohrenbetäubenden Krachen
knallten sie direkt hinter dem Gig auf das Pflaster.
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