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Die Loewin von Mogador

Die Loewin von Mogador

Titel: Die Loewin von Mogador
Autoren: Julia Drosten
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musterten ihn forschend.
    „Verzeihen Sie!“, stammelte er. „Aber wenn
Sie mir die Bemerkung erlauben: Sie sind eine Freude für das Auge eines jeden
Mannes, und Sie mit einem Rumfass oder einem Kaffeesack zu vergleichen, würde
mir gewiss nie in den Sinn kommen. Das hieße nicht nur, Ihre Schönheit zu
beleidigen, sondern auch Ihren aufrechten Charakter, den Sie mir soeben wieder
eindrucksvoll demonstriert haben.“
    „Was sind Sie doch für ein Schmeichler, Mr.
Hopkins!“, rief sie kopfschüttelnd.
    Benjamin, der allmählich begriff, was andere
Männer meinten, wenn sie von Miss Spencers flottem Mundwerk sprachen,
beschloss, vorerst auf weitere Komplimente zu verzichten. „Sie müssen jetzt
links abbiegen, und dann immer an der hohen Backsteinmauer entlang.“
    Sibylla lenkte den Gig von der Zufahrtsstraße
zur Reederei auf einen schmaleren Weg, der parallel zu einem Kanal verlief, der
die Themse mit den West India Docks verband.
    „Du meine Güte!“, rief sie beeindruckt aus,
nachdem sie eine Halle passiert hatten, aus der die stampfenden Geräusche von
Dampfmaschinen drangen. „Hier herrscht ja fast so viel Betrieb wie auf der
Oxfordstreet zur Haupteinkaufszeit!“
    „Und genau wie die Händler dort wollen die
Schiffe ihre Waren loswerden – nur in viel größeren Mengen“, ergänzte Benjamin.
    Sie sah ihn mit glänzenden Augen an. „Jetzt
verstehe ich, warum mein Vater immer sagt, der Hafen sei der Grund, warum
London existiert.“
    Drei- und Viermastbarken, große stabile
Westindiensegler, lagen in dichter Folge hintereinander bis weit in den Fluss
hinaus. Die gesamte Dockanlage befand sich auf einer Halbinsel, der Isle of
Dogs , die an drei Seiten von einer weiten Themseschleife umgeben war. Vor
über dreißig Jahren, als die West India Docks gebaut wurden, war hier die erste
Hafenanlage Londons außerhalb des Flusses entstanden - zwei mächtige Becken,
die zusammen sechshundert Segelschiffe aufnehmen konnten und durch ein
ausgeklügeltes System von Kanälen mit der Themse verbunden waren.
    „Hier an der Ostseite liegt die Ein- und
Ausfahrt für die Schiffe“, informierte Benjamin Sibylla. „Zuerst fahren sie ins
Importdock, um die Ladung zu löschen. Danach geht es weiter ins Exportdock, um
neue Fracht an Bord zu nehmen, und schließlich über einen weiteren Kanal wieder
hinaus in die Welt.“
    „Eine beeindruckende Vorstellung, dass dank
dieser Schiffe Menschen in ganz England in den Genuss von Kaffee, Tee oder
Zucker aus der Karibik kommen“, bemerkte sie.
    Benjamin nickte vage. Er wollte zu gern
wissen, was in dem Brief stand, den Miss Spencer bei sich trug. „Es müssen
schon sehr dringende Angelegenheiten sein, die eine unbescholtene junge Dame
dazu bringen, einen Fuß in diese Gegend zu setzen“, sagte er – bemüht,
fürsorglich zu klingen.
    „Sehr hübsch ausgedrückt, aber dennoch viel
zu neugierig, finden Sie nicht?“, versetzte sie spitz.
    Verstimmt blickte er ein paar Möwen
hinterher, die sich kreischend um einen stinkenden Fischkadaver stritten, und
merkte nicht, wie Sibylla ihm einen amüsierten Seitenblick zuwarf. Stumm und
ein wenig beleidigt hockte er auf der Sitzbank, die Ledermappe an die schmale
Brust gepresst, aber gleichzeitig fand sie es anrührend, wie sehr er sich
bemühte, sie zu beeindrucken. Sie betrachtete sein hübsches, etwas weiches
Gesicht. Er hatte helle Brauen und Wimpern, wasserblaue Augen, schmale Lippen
und eine vorspringende, ziemlich lange Nase. Seine glatt rasierten Wangen, die
perfekt getrimmten Koteletten und das akkurat geschnittene Haar verrieten genau
wie die raffiniert geknotete Krawatte und die blitzblanken Schuhe einen Hang zu
Luxus und Eitelkeit.
    Ihre früheren Verehrer hatten allesamt
versucht, sie zu bevormunden, als wäre sie ein dummes kleines Kind. Oder sie
hatten ihr ungebetene Ratschläge erteilt und sich irritiert zurückgezogen, wenn
sie merkten, dass sie nicht nur eine eigene Meinung hatte, sondern diese auch
vertrat. Einer hatte sogar versucht, zudringlich zu werden, und sie hatte ihn
geohrfeigt. Dieser zweifelhafte Kavalier hatte später das Gerücht verbreitet,
dass Sibylla Spencer die Männer beherrschen wollte.
    Seit sie mit sechzehn Jahren Lady Eleanor
Holles Mädchenschule verlassen hatte, wurde von ihr erwartet, dass sie
heiratete und eine Familie gründete. Dass sie selbst ganz andere Wünsche hatte,
das Leben in all seiner faszinierenden Vielfalt auskosten und so viel wie
möglich von den Wundern dieser Erde mit
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