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Die Loewin von Mogador

Die Loewin von Mogador

Titel: Die Loewin von Mogador
Autoren: Julia Drosten
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mit unendlich viel Ausdauer und Weitblick und unter großen
finanziellen Risiken ihre Vision der größten Dockanlage Englands zum Leben
erweckt hatten.
    Der Wachmann am Tor musterte Sibylla und
ihren eleganten kleinen Gig ungläubig, doch dann erkannte er Benjamin, nickte
kurz und ließ sie passieren. Vor ihnen öffnete sich eine lange Straße. Rechts
lag das Hafenbecken, in dem so viele Segler ankerten, dass Sibylla sich fragte,
wie die großen Schiffe es schafften, zu rangieren, ohne sich ständig
gegenseitig zu rammen. An der linken Seite befanden sich die Speicherhäuser,
fünfstöckige Backsteingebäude mit Rampen, Ladeluken und Seilzügen.
    „Unten lagern die schweren Waren, wie
Rumfässer, darüber die Säcke mit Rohkaffee und Zucker oder Baumwollballen und
ganz oben leichte Lieferungen, in der Regel Gewürze. Vom Importdock aus werden
insgesamt neun Speicher befüllt. Zwei davon sind zurzeit an die East India
Company vermietet, die darin Tee deponiert“, erklärte Benjamin.
    Auf dem Dockgelände herrschte jede Menge
Betrieb. Alle Sprachen der Welt summten an Sibyllas Ohr, Fässer wurden polternd
über rauhes Pflaster zu den Speichern gerollt. Mit bauchigen braunen Jutesäcken
beladene Karren holperten von hemdsärmeligen Arbeitern geschoben zwischen Kai
und Lagerhäusern hin und her, die Metallketten der massiven Lastenkräne
rasselten und quietschten. Eine Gruppe flachsblonder Seemänner kam lachend und
singend von einem Schiff, von dessen Heck die Flagge des Königreichs Dänemark
flatterte. Auf dem benachbarten Segler brüllte ein Offizier auf Portugiesisch
ein paar dunkelhäutige Matrosen an, die damit beschäftigt waren, das Deck zu schrubben.
Längs des Kais warteten Dutzende Fässer auf ihren Transport in einen der
Speicher. Es roch nach Holzteer, dem süßlichen Aroma von Rum und dem fischigen
Gestank des Brackwassers.
    Sibylla hätte zu gern alle Eindrücke bis ins
Kleinste aufgenommen. Doch sie hatte genug damit zu tun, ihr Pferd zu
beruhigen. Die Vielzahl unbekannter Gerüche, nicht endender Lärm und
allgegenwärtige Hektik machten die Stute nervös. Sie schnaubte, spitzte die
Ohren und wollte immer wieder ausbrechen.
    „Manchmal wünschte ich, sie hätte das
Temperament der Arbeitsgäule!“, rief Sibylla und schaute zum Kai, wo Dutzende
von Fuhrwerken standen, deren schwerknochige Pferde angesichts des Trubels
nicht die geringste Regung zeigten. „Aber keine Angst, ich habe sie im Griff!“
    „Ihr Wort in Gottes Ohr“, murmelte Benjamin
und hielt sich an der Seitenlehne der Sitzbank fest. Sibylla betrachtete den
Wald von Masten, der sich im leichten Wellengang des Hafenbassins wiegte, und
dann einen Kran, der eine Palette mit einem halben Dutzend Kaffeesäcken darauf
in die Höhe zog.
    „Wie lange dauert es, bis so ein Schiff leer
ist?“, fragte sie.
    „Nun, so ein großer Westindienfahrer fasst
fünfhundert Tonnen, oft sogar mehr. Dennoch vergehen höchstens vier Tage, bis
die gesamte Ladung gelöscht ist“, erklärte Benjamin. „Als der Frachtverkehr
noch im Fluss abgewickelt wurde, dauerte es mitunter Wochen, um ein Schiff zu
be- oder entladen.“
    „Solche Verzögerungen machen die Waren
teuer“, stellte Sibylla fest. „Und dann gibt es an der Themse ja auch keine
Mauer, die Diebe abhält.“
    Benjamin staunte. „Sie wissen gut Bescheid.“
    Sie warf ihm einen ihrer spöttischen Blicke
zu. „Danke, dass haben Sie schon einmal gesagt, Mr. Hopkins. Muss ich daraus
schließen, dass Sie mir so viel kaufmännisches Verständnis nicht zugetraut
haben?“
    Er flüchtete sich in ein verlegenes Lachen.
„Sie müssen zugeben, dass das nicht zu den Dingen gehört, die eine junge Dame
normalerweise interessieren.“
    Sie hob eine Augenbraue und musterte ihn.
„Und ich würde behaupten, Mr. Hopkins, dass Sie nicht wissen, was eine junge
Dame alles interessiert.“
    Dieses Mal schaffte Benjamin es nicht, ihrem
durchdringenden Blick standzuhalten. „Dort vorn liegt die Queen Charlotte. Sie
ist heute Morgen eingelaufen, und ich muss die Ladung prüfen“, erklärte er und
ärgerte sich, weil er krächzte wie ein Halbwüchsiger im Stimmbruch. „Aber erst
bringe ich Sie zu Ihrem Vater. Speicher drei liegt nämlich genau gegenüber.
Ihren Wagen können sie so lange hierlassen. Bestimmt passt einer der
Fuhrwerklenker darauf auf.“
    Sibylla blickte an Benjamins ausgestrecktem
Arm entlang zu einem prächtigen Segelschiff, das längs des Kais vertäut war.
Breit und wuchtig erhoben sich die
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