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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel
Autoren: Eliot Pattison
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Schatten hinter ihm stand der Mann mit den Striemen im Gesicht, der Tiger.
    »Es ist soweit«, teilte der purba -General Tenzin schroff mit. »Auf der anderen Seite der Hügel wartet ein Lastwagen, um dich nach Norden zu bringen.«
    Tenzin musterte die strenge Miene des Mannes. »Ich bin weit genug gekommen«, sagte er ruhig. Shan folgte seinem Blick in die Schatten. Fünf oder sechs weitere Männer der Eskorte warteten in der Nacht.
    Das zerfurchte Narbengewebe des Tigers bewegte sich auf und ab, weil der Mann mehrfach die Zähne zusammenbiß und dabei vorwurfsvoll Shan ansah. »Das Volk braucht den Abt von Sangchi im Ausland. Wir haben Pläne.«
    »Der Abt von Sangchi existiert nicht mehr«, verkündete Tenzin und ließ den Blick dann langsam über die zerlumpten Gefährten schweifen. Nyma, die seit der Beerdigung nicht aufgehört hatte zu weinen. Gyalo, der stumm Jampas Kopf streichelte. Dremu, der im Halbdunkel saß und verunsichert ins Feuer starrte. Dzopa, der große dobdob , der mit abgewandtem Gesicht auf einer Decke lag und um Jokar trauerte. »Die Menschen brauchen mich hier«, sagte Tenzin. »Wir.« - er schloß dabei mit ausholender Geste alle im Umkreis ein - »wir werden ein gompa wiederaufbauen. Wir werden einen Ort errichten, an dem Tibeter lernen können, wie man heilt.«
    Er sah kurz zu Shan und dann wieder zu dem purba.. »Ich habe vor einigen alten Männern im Berg ein feierliches Versprechen abgelegt.«
    »Rapjung?« fragte der Tiger zweifelnd und ungeduldig. »Dieser alte Ort kann niemals.«
    »Falls es ein neues Tibet geben soll«, unterbrach Tenzin ihn, »muß es auf dem alten Tibet aufbauen.«
    »Aber die Armee wird kommen«, protestierte der Tiger. »Und auch die Schreihälse. Jeder, der versucht, ein gompa zu bauen, wird im Gefängnis landen.«
    »Nein«, sagte Lokesh fröhlich. »Dieser Oberst hat aus Rapjung ein verborgenes Land gemacht.«
    Tenzin grinste den alten Tibeter an. »Mit starken Armen und starken Herzen können wir alles bauen«, sagte er. Jampa trat wie zur Bestätigung einen Schritt vor und schnaubte. »Rapjung gompa wurde niemals zerstört, nur die Gebäude. Das hat Jokar Rinpoche uns gelehrt. Es war lediglich ein Schatz, der neu entdeckt werden mußte.«
    »Die Regierung wird trotzdem nach dir suchen. Die Armee. Die Schreihälse, sie hassen dich. Sie werden dich jetzt als politischen Feind verfolgen.«
    »Nein«, warf Shan ein. »Das werden sie nicht.«
    Er zog Lins Umschlag aus der Tasche. »Anyas chinesischer Onkel hat eine Meldung geschrieben.«
    Shan las sie laut vor. Die Mitteilung trug das Datum des Vortags, als er und Tenzin sich in der Höhle der Lamas aufgehalten hatten. Oberst Lin schrieb, er habe in den Bergen nach Reaktionären gefahndet und dabei den Abt von Sangchi nicht nur gesehen, sondern sogar ergriffen und eindeutig identifiziert. Leider habe der Abt zu fliehen versucht, und in dem nachfolgenden Handgemenge sei er dann unmittelbar vor Lins Augen vom Rand einer hohen Klippe in eine Schlucht gestürzt. Oberst Lin gab hiermit den Tod des Abtes zu Protokoll.
    »Dieser Zhu hat einen ganz ähnlichen Bericht über Melissa Larkin verfaßt«, stellte der purba-Führer fest. »Man weiß, daß er gelogen hat.«
    »Aber hier handelt es sich um einen Offizier der Armee«, sagte Shan, »den hochdekorierten Oberst einer Eliteeinheit.«
    Der Tiger seufzte und nickte. Er mußte einräumen, daß wahrscheinlich niemand Lins Behauptung anzweifeln würde. Dann musterte er die Tibeter neben Shan. »All unsere Pläne«, sagte er betrübt. »All die Opfer«, fügte er mit Blick auf Somo hinzu. »Drakte.«
    »Drakte«, entgegnete Somo langsam und stellte sich neben Tenzin, »hätte gesagt, er und ich sollten ein gompa bauen.«
    Der purba -Führer nahm schweigend alle nacheinander in Augenschein und nickte Shan ein letztes Mal zu. »Lha gyal lo« , sagte er leise und tauchte wieder in die Schatten ein.
    Einer seiner Gefolgsleute verweilte hingegen noch einen Moment und trat zum Feuer vor. Es war Melissa Larkin, die inzwischen eine Fellmütze und eine Hirtenweste trug. »Ich bleibe«, sagte sie zu Shan mit neuem Funkeln in den Augen. »Es gibt noch so viel mehr darüber zu lernen, wie in Tibet die Erde funktioniert.«
    Sie wollte sich schon umdrehen, hielt dann aber inne. »Eines Tages wird Peking entdecken, daß der Jangtse einen neuen Quellfluß hat«, fügte sie hinzu und folgte dem Tiger in die Nacht.
    Shan blieb noch einige Minuten bei den anderen und schlenderte dann selbst
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