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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel
Autoren: Eliot Pattison
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betteln. Er sagt, die Mönche hätten früher auch gebettelt, und es sei nichts Ehrenrühriges daran.«
    Shan wandte sich zum See um und versuchte sich zu beruhigen. In all den Jahren, die er den sanften alten Mann nun schon kannte, war dies die erste gravierende Meinungsverschiedenheit zwischen ihnen. Aber ein Streit war von vornherein zwecklos, denn Lokesh hatte die Stimme seines inneren Gottes vernommen. »Mit dem schlimmen Fuß wird es schwierig werden«, sagte Shan leise.
    »Ich habe Jokars Stab.«
    Lokesh wies auf das verwitterte Stück Holz an seiner Seite.
    »Die Straße nach Golmud ist tückisch«, tastete Shan sich vor. »Laß mich dich wenigstens bis dorthin begleiten, alter Freund.«
    Er verspürte eine merkwürdige Angst - die Angst, daß Lokesh nein sagen würde. »Danach mache ich mich auf die Suche nach Gendun. Ich muß ihm ein Paar neue Stiefel besorgen.«
    Der alte Tibeter lächelte. »Natürlich. Unterwegs kannst du mir helfen, mein Chinesisch aufzufrischen. Ich werde die Sprache besser beherrschen müssen, wenn ich die Hauptstadt erreiche. Morgen früh brechen wir auf.«
    »So bald? Du mußt doch gewiß noch viele Pläne für Gang und Lhandro zeichnen.«
    »Was der Grund dafür war, daß ich nicht schon heute morgen aufgebrochen bin«, sagte Lokesh störrisch.
    Shan erkannte den Trotz im Blick des alten Mannes. »Morgen früh«, stimmte er zu.
    Mehr und mehr Tibeter trafen ein, Hirten und Bauern, die das Wunder mit eigenen Augen sehen wollten. Zelte wurden errichtet, und vor einem davon saß Lokesh mit Lhandro und fertigte aus dem Gedächtnis Zeichnungen an, Zeichnungen von Gärten, von Häusern und den aus Holz zusammengesteckten Dachtraufen, sogar von den Einzelheiten der Türschnitzerei des Druckraums, an die er sich noch erinnern konnte. Nyma brachte ein langes Bündel und wickelte es auf einer Decke aus. Es war das peche aus dem Geheimraum von Norbu.
    Lokesh hielt inne und berührte mit zitternder Hand das oberste Blatt, während er die Worte las. »Die Geschichte von Rapjung«, sagte er mit bebender Stimme und drückte Nymas Hand, als sie ihm Seiten mit Karten und Gebäudeplänen zeigte.
    Bei all der hektischen Aktivität verlor Shan Tenzin aus den Augen. Er fand ihn schließlich in der kleinen Schlucht hinter den Dorfruinen wieder, wo der ehemalige Abt zwischen Gang und Dzopa, dessen Bein bandagiert war, mit vielen Tibetern in einem großen Kreis saß. Dremu hockte wie ein Wachposten auf einem Felsen über ihnen. Davor stand Somo und starrte auf zwei Gegenstände in ihren Händen: ein Taschenmesser mit Löffel und ein Silberarmreif mit Lapislazuli. Dremu hatte zurückgegeben, was ihm in der Einsiedelei als Lohn gezahlt worden war.
    Die Tibeter in der Schlucht sprachen über Arbeitsgruppen und Vorräte. Shan nahm auf einem Stein hinter Tenzin Platz und ließ den Blick über die Anwesenden schweifen. Sie waren alle älter, die meisten zählten sechzig Jahre oder mehr. Ein Mann sagte, er sei Steinmetz gewesen, ein anderer thangka -Maler, ein dritter Weihrauchmacher. Drei waren Zimmerleute, zwei Metallarbeiter, die früher den ganzen Tag lang Gebetsmühlen hergestellt hatten.
    »Ihr könnt gern wieder den ganzen Tag arbeiten«, sagte Tenzin zögernd. »Aber wir haben kein Geld, um euch zu bezahlen.«
    »Geld?« witzelte ein alter Mann. »Wir haben von diesem Bericht der Schreihälse gehört. Demnach sind wir alle schon sehr wohlhabend.«
    Alle brachen in lautes Gelächter aus und verstummten schlagartig, als ein Fremder am Rand des Kreises auftauchte, ein hochgewachsener schlanker Chinese mit langem weißen Haar. Mehrere der Tibeter warfen Shan vorwurfsvolle Blicke zu.
    »Ich verstehe mich nicht besonders gut auf die Holzbearbeitung«, sagte der Han angespannt auf tibetisch. »Und als ich einmal eine Mauer errichtet habe, wurde sie ziemlich schief. Aber ich kann Bücher machen. Dieses gompa hat früher auch Bücher hergestellt, wichtige Bücher.«
    Es war Professor Ma, und er sah sehr müde aus. »Ich habe das Tal auf einem der Lastwagen verlassen«, sagte er mit Blick zu Tenzin und Shan, »aber nach zehn Kilometern bin ich wieder ausgestiegen. Jokar hat gesagt, ich müsse auf meinen Herzwind achtgeben.«
    Diese Worte ließen alle dort aufmerken.
    »Ich möchte gern bei euch bleiben, falls ich darf«, sagte Ma nach einem Moment. »In China habe ich kein Zuhause mehr.«
    Eine ältere Tibeterin rückte im Kreis zur Seite und machte dadurch einen Platz für ihn frei. »Wenn ich dann die Bücher
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