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Kurs Minosmond

Kurs Minosmond

Titel: Kurs Minosmond
Autoren: Karl-Heinz Tuschel
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    Der Tote lag in einer Blutlache. Pauline hielt sich am Türrahmen fest. Ich bin dreiundzwanzig und habe noch nie einen Toten gesehen, dachte sie. Dann fiel ihr ein, daß das nicht stimmte. Im vorletzten Jahr, während ihrer Ausbildung für den Ordnerdienst, hatte sie sogar zwei Tote gesehen, bei der Obduktion; für sie waren es freilich Namenlose gewesen. Das hier aber war Onkel Otto, den sie von klein auf gekannt hatte, Onkel im Kindersinn und später guter Nachbar und mehr; das war Otto Mohr gewesen, etwas über fünfzig, Glasgestalter, Feinmechaniker, Tierzüchter – gestern war er alles noch gewesen. Oder vielleicht sogar heute morgen noch, vor Stunden?
    Erst jetzt, als sie sich auf ihre Pflichten als Ordner besann, wurde ihr voll bewußt, wie ungeheuerlich, wie außerhalb jeder Erwartung, wie eigentlich unmöglich das war, was sie hier sah. Ihre Pflichten für solchen Fall, einst gelernt als fast überflüssiges, aber noch nicht abschaffbares Regelwerk, hatte sie nie ausüben müssen, und sie hatte auch nie mit einem gesprochen, der sie ausgeübt hatte. Sie wußte zwar aus dienstlicher Information, daß es hier und da Fälle gewaltsamen Todes gab, elf im letzten Jahr in der Region Mitteleuropa, meist Selbstmorde aus unglücklicher Liebe, einmal auch eine Tötung im Affekt; doch das alles war für Pauline bisher Statistik gewesen.
    Jetzt aber mußte sie sich ebendiese Pflichten vergegenwärtigen, und indem sie das tat, wich ihre Verwirrung. Nun war sie bedrückt, weil ihr bewußt wurde, daß sie mehr Verwirrung als Trauer oder Entsetzen gespürt hatte. Wieder einmal schien ihr der Verdacht gerechtfertigt, den zuerst andere und dann auch sie selbst gegen sich erhoben hatte, daß sie nämlich nicht die Gefühlsskala normaler Menschen hätte. Vor diesem trübsinnigen Gedanken, nun endlich, rettete sie sich in ihre Aufgabe als Ordner im Vorwerk von Altenwessow.
    Was zuerst? Feststellen, ob Hilfe nötig. Das hatte die Ratgeberin getan, die Otto Mohr gefunden hatte. Zweitens: Zeugen feststellen und zur Anwesenheit oder Erreichbarkeit verpflichten. Nun, Zeugen gab es nicht, bisher wenigstens. Drittens: feststellen, ob Verdacht auf gewaltsamen Tod gerechtfertigt ist. Allem Anschein nach war er es, auch die Ratgeberin war zu diesem Schluß gekommen. Da lag ein Mann in der Diele seines Hauses, mitten auf dem Parkettfußboden, in einer Blutlache; ein Mann, von dem man wußte, daß er gesund gewesen war und kräftig wie ein Bär. Was sollte man da denken? Viertens: den Fundort sichern, daß nichts verändert wird – das tat sie jetzt. Und schließlich fünftens: den RR benachrichtigen, den Ratgeber der Region, genauer, seinen Zweiten Gehilfen, der sich auf solche Fälle verstand – das tat gerade jetzt die Ratgeberin über ihre Grapschkiste, Verzeihung, den Personenidentifikator, verbesserte sich Pauline in Gedanken mit einer leicht spöttischen Verbeugung vor der Amtswürde jenes Zweiten Gehilfen, den sie zwar nicht kannte, den sie sich aber ungefähr so vorstellte wie ihre Lehrer an der Ordnerschule: pedantisch, nur im Amtsstil redend, unaufhörlich damit beschäftigt, alles nicht Sachdienliche, nicht Sachbezogene beiseite zu schieben.
    Was blieb ihr also zu tun? Da sie ihre Aufgaben heruntergehaspelt hatte, fühlte sie sich klar im Kopf und bereit zu handeln – und nun mußte sie warten. Und das womöglich lange. Denn der Zweite Gehilfe hatte, wie sie sich jetzt erinnerte, seinen Sitz in Prag, einer der fünf Metropolen der Region Mitteleuropa, das nahe Berlin gehörte noch dazu, Warschau, München und Hamburg. Jedenfalls konnte es Stunden dauern, bis er hierherkam, einen halben Tag, einen ganzen sogar, wenn er nicht gleich abkömmlich war – aber nein, dann würde er sicherlich jemanden schicken, beauftragen, in solch dringendem Fall; aber einen halben Tag konnte es schon dauern.
    Etwas blinkte. Die Sonne war weitergewandert, ihr Schein hatte den Toten erreicht, und dort, am Hals, wurden die Strahlen gebrochen und reflektiert. Pauline, aus ihren Überlegungen gerissen, löste sich vom Türrahmen, bückte sich und betrachtete aus flachem Winkel das Parkett – da war alles blank, keine sichtbare Spur. Auf Zehenspitzen ging sie zu dem toten Nachbarn.
    Da sah sie, daß ein Glasstab in dessen Hals steckte, und plötzlich traf sie ein Gedanke wie ein Schlag: Das mußte jemand getan haben!
    Dieser Gedanke hatte sich bisher vor ihr versteckt hinter der Anonymität des Begriffs gewaltsamer Tod, sie hatte wohl nicht
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