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Das Tal der Wiesel

Das Tal der Wiesel

Titel: Das Tal der Wiesel
Autoren: A.R. Lloyd
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ist noch kein Winter.« Er betrachtete sie stirnrunzelnd. »Ich habe den Winter miterlebt. Die Lebenssäfte frieren ein, die Kälte ist erbarmungslos, das Land verwandelt sich in eine Wildnis. Vor Hunger bekommst du Bauchschmerzen. Du bewegst dich in einer trostlosen Welt.«
    Kine kannte den Winter. Sein Stirnrunzeln verstärkte sich. Er kannte die dunkle Jahreszeit, die Tage, die ohne einen einzigen Kampf vergingen, die flüchtigen Morgendämmerungen und Sonnenuntergänge. Dann neigte sich die Düsternis von den Schneewolken herunter, und das Leben schwand dahin. Er kannte den Winter, die geheimnisvollen und unerträglich langen Nächte. Während Wunder ausgelassen umhertollte, rief sich Kine die bitterkalte Wintersonnenwende ins Gedächtnis zurück: die Schreie der braunen Eulen über das starr gefrorene Ackerland hinweg, das alarmierende Gebell eines Hundes in der Ferne, die schwachen Laute des Rotkehlchens in der grauen Leere. Im Winter zerbröckelten die Steine. Im Winter gefroren Erde und Blut. Die Kräfte nahmen ab. Saatkrähen suchten Misthaufen auf und die schmutzigen Dämpfe, wo sich Stiere wälzten, während die Waldmäuse, nachdem sie ihre Vorräte aufgebraucht hatten, an der Holunderrinde nagten. Die wilden Tiere hungerten. Artgenossen kämpften gegeneinander, und die Schwachen starben.
    »Wenn Eis auf deinem Fell haftet«, sagte er, »und die Pfoten vor Kälte brennen – wenn der Hunger wie die Krallen einer Eule zupackt – das ist der Winter, Wunder. Sei darauf vorbereitet!«
    »Hör doch auf, dir Sorgen zu machen«, erwiderte sie. »Die Sonne scheint, und die Nerze sind vertrieben! Es ist wieder Kines Land.«
    Vor sich hingrübelnd lief er weiter. Sie erreichten den Fluß und blieben dort stehen, wo die Frösche gequakt hatten. Schnepfen flogen, Spiralen drehend, aus den Riedgräsern auf; ein Teichhuhn verspritzte Wasser. Der Fluß war klar, Elritzen glitzerten in den Untiefen, und ein Hecht streifte herum. Ein Plätschern in der Ferne deutete darauf hin, daß ein Otter ins Wasser getaucht war, um nach Nahrung zu suchen. Wunders Augen blickten verständnisvoll. »Das gehört nun der Vergangenheit an, Kine; es wird Zeit, zu vergessen und neu anzufangen. Das Wiesel jagt allein. Dies ist dein Land. Ich muß weiter, aber ich werde nicht für immer weg sein. Ich werde wieder vorbeikommen«, schnurrte sie, »wenn du willst.« Sie betrachtete ihn zärtlich. »Wenn du dich mit meinem Geplapper abfinden kannst«, fügte sie hinzu.
    »Natürlich.« Er lächelte sie an.
    Sie hatte recht. Er sah zum Wald und auf das Land dahinter. Sie sprach mit Kias Stimme, und bevor sein Blick die ansteigenden Hügel erreichte, wußte er, daß sich der Frost von ihnen zurückgezogen hatte.
    Kine kehrte mit Wieselenergie auf die Anhöhe zurück. Der Herbst vergoldete sein Land, krönte sein Erbe. Schon immer hatte seine Familie hier gejagt. Er kannte jedes Versteck, den Unterschlupf des Maulwurfs und den Kaninchenbau. Er konnte die Zeichen und Geräusche des Tals deuten. »Tchk«, sang er. Er war frei und allein. Er schnurrte vor sich hin, während er nach Beute suchte. »Tchk-kkkk.« Er war ungebrochen. Er hörte das Lachen des Grünspechts und das Geheul der Füchsin. Niemand bewegte sich so leichtfüßig, so gewandt wie er. Kine lief hungrig voran. »Tchk-kkkk-chk.« Er war klein, verkündete sein Gesang, aber furchterregend.

Anmerkungen des Autors
    Kines Land gibt es wirklich. Wenn ich schreibe, kann ich von meinem Fenster aus die Scheune, in der die Eule wohnt, sehen, den Wald und den Krähenhorst, einen Hasen, der die Anhöhe hinunterhoppelt, das Marschland, die Pumpstation und das sich zur Küstenebene hin öffnende Tal, wo die Grafschaften Kent und Sussex zusammentreffen. Die Handlung ist frei erfunden; die Kanäle, Bäume und Sträucher existieren dagegen wirklich, genau wie ihre Bewohner. Zusammen mit ihnen lebe ich in diesem Land.
    Das Wiesel hat viele Namen. Shakespeare bezeichnete es als Mäusefänger, die Zigeuner nannten es dandy hound. In meiner Kindheit gehörte das Wiesel, Männchen oder Weibchen, zu den vertrauten Tieren in unserer Nachbarschaft. Die Wildhüter waren seine Gegner, doch die Bauern hießen es willkommen. Denn das Wiesel, das viele für bösartig und schädlich halten, besitzt nicht nur ein charaktervolles, einnehmendes Wesen, sondern ist auch unser natürlicher Verbündeter gegen Ratten, Mäuse und Kaninchen – drei große Plagen für die Landwirtschaft, wenn sie sich zu stark
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