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Das stumme Lied

Titel: Das stumme Lied
Autoren: Peter Robinson
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Weg. Die St. Mary's Church jedoch war angestrahlt wie ein Leuchtfeuer. Hoch über der Kirche schien ein abnehmender Dreiviertelmond von Sternen umgeben am klaren Himmel. Am Ende der hundert-neunundneunzigsten Stufe, wo sich Caedmon's Cross vor der hellen, sandfarbenen Kirche abzeichnete, wandte sich Sue zum Friedhof der namenlosen Steine. Sie wusste, dass er ihr folgte, dass er bald oben auftauchen und nachsehen würde, welchen Weg sie genommen hatte. Sie verlangsamte ihren Schritt. Sie wollte ihn nicht enttäuschen.
      Im Licht von St. Mary's folgte sie dem Pfad durch die Gräber um die dem Meer zugewandte Seite der Kirche herum und über den verlassenen Parkplatz, wo es wieder dunkel wurde. Sie fand den Küstenweg und blieb einen Augenblick am Tor stehen. Ja, da war er; er kam gerade aus dem Friedhof und blickte in ihre Richtung.
      Sie drehte sich um und lief den Pfad entlang. Sie war jetzt hoch oben auf der Klippe, auf dem steilen Abschnitt, der als Scar bekannt war, und ging in Richtung Robin Hood's Bay. Der Holzsteg unter ihren Füßen knarrte an manchen Stellen, und da einige Bretter fehlten, musste sie langsamer gehen. Bald stand ein Stacheldrahtzaun zwischen dem Weg und dem Abhang, doch er war dort, wo die Erosion den Fels zerfressen hatte, umgefallen.
      Jetzt, inzwischen weiter weg von den störenden Strahlern der Kirche, schien der Mond klarer und benetzte mit seinem silbrigen Licht das Gras auf der einen Seite und das Meer auf der anderen. Sue dachte, sie könnte ihn bis Saltwick Nab und dort die Stufen hinab führen, hinaus auf die im Meer liegenden Felsen, doch er kam immer näher. Sie konnte seine Schritte auf dem Holzsteg hören, und als sie ihren Kopf halb umwandte, erkannte sie seine dunkle Silhouette im Mondlicht.
      Er ging jetzt schneller. Bevor sie Saltwick Nab erreicht hätte, würde er sie eingeholt haben, und sie wollte nicht, dass er sie von hinten angreifen konnte. Während sie ging, griff sie in ihre Umhängetasche und tastete nach dem Briefbeschwerer. Glatt und schwer lag er im nächsten Moment in ihrer schwitzenden Hand.
      Er war nun fast so nah, dass sie seinen gehetzten Atem hören konnte. Der Weg die Stufen hinauf musste ihn erschöpft haben. Als sie es nicht länger aushalten konnte, blieb sie abrupt stehen und drehte sich zu ihm um. Im Mondlicht konnte sie seine Züge gerade noch erkennen: die niedrige, dunkle Stirn, den breiten, verbissenen Mund und die Augen, die funkelten wie Sterne auf dem Wasser. Er war ebenfalls stehen geblieben. Nur ungefähr fünfzig Meter lagen zwischen ihnen. Zuerst sagte keiner von beiden ein Wort, auch schienen beide den Atem anzuhalten. Sie spürte, dass sie zitterte. Plötzlich erinnerte sie sich mit vollkommener Klarheit an all den Schmerz, den sie das letzte Mal erlitten hatte, als sie sein gespenstisches Gesicht im Mondlicht gesehen hatte.
      Schließlich brachte sie den Mut auf, ihn anzusprechen. »Erinnerst du dich an mich?«
      »Du«, sagte er mit diesem vertrauten Krächzen. »Du warst in meinem Haus.«
      »Ja«, sagte sie und sammelte Kraft, während sie sprach und die Härte des massiven Glases in ihrer Hand spürte.
      »Warum? Was willst du von mir?«
      Sue antwortete nicht. Jetzt, da sie ihn gefunden hatte, hatte sie alles gesagt, was sie wollte.
      »Warum?«, wiederholte er.
      Sie bemerkte, dass er sich ganz langsam auf sie zubewegte und den Abstand verkleinerte, während er redete.
      »Du weißt genau warum«, sagte sie und zog ihre Hand aus der Umhängetasche. Dann machte sie einen Satz auf ihn zu und schrie: »Na, komm schon! Hier bin ich. Komm schon, tu es! Beende dein Werk!«
      Während sie sich weiter auf ihn zubewegte, konnte sie Verwirrung und Entsetzen in seinem Gesicht ablesen. »Komm schon! Was ist los mit dir? Tu es!«
      Doch er schreckte zurück, als Sue nun mit dem Briefbeschwerer in der erhobenen Hand näher rückte. Er streckte seine Arme aus, als wollte er sie abwehren, und in dem Moment war ihr alles klar. Sie wusste, dass er für seine Taten das Überraschungsmoment brauchte. Er war ein Feigling. Und wie musste sie aussehen, fragte sie sich, mit einer massiven Glaskugel in der ausgestreckten Hand und der ganzen Wut eines zerstörten Lebens in ihrem Gesicht und in ihrer Stimme? Lieber nicht daran denken. Das jämmerliche Schwein hatte schreckliche Angst und seine Angst entmutigte sie für einen Moment.
      Er musste ihre Verwirrung gespürt haben, wie ein Tier seine Beute wittert,
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