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Das stumme Lied

Titel: Das stumme Lied
Autoren: Peter Robinson
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wenn Frauen gehängt wurden.« Sie nahm das Buch und blätterte langsam durch die Seiten, während sie weitersprach. »Es gab da eine Hinrichtung in Dorchester. Als er schon wesentlich älter war, hat er jemandem davon erzählt ... ah, da ist es ... 1856. Martha Browne war der Name der Frau, sie wurde für den Mord an ihrem Mann gehängt. Nachdem sie ihn mit einer anderen Frau erwischt hatte, war es zum Streit zwischen den beiden gekommen. Er hat sie mit einer Peitsche angegriffen und sie hat ihn erstochen. Sie zu hängen war die damalige Vorstellung von Gerechtigkeit. Hardy ging auf jeden Fall zu der Hinrichtung und schrieb darüber.« Sie hielt Kirsten das Buch unter die Nase. »Sieh's dir selbst an.«
      Kirsten las: »Welch zarte Gestalt sich vor dem Himmel abzeichnete, als sie im dunstigen Regen hing, und wie das enge schwarze Seidenkleid ihre Figur betonte, als sie sich halb herum und wieder zurück drehte.«
      »Also wirklich«, fuhr Sarah fort, »da hängt eine arme Frau in der Schlinge, und Hardy stellt es dar, als würde sie zu einer Miss-Wahl antreten. Ist das zu fassen?«
      Kirsten las die Beschreibung durch; sie war auf jeden Fall erotisch aufgeladen.
      »Stimmt doch, oder?«, fragte Sarah und schenkte Wein nach. »Hast du nicht auch den Eindruck, dass es Hardy ein abartiges sexuelles Vergnügen bereitet hat, dabei zuzuschauen, wie die Frau abgemurkst wurde?« Sie legte schnell eine Hand vor den Mund. »Oh, entschuldige. Ich ... da bin ich voll ins Fettnäpfchen getreten. Der Wein muss mir zu Kopf gestiegen sein. Ich meine, ich habe nicht nachgedacht. Ich wollte nicht ... du weißt schon.«
      Kirsten winkte ab. »Schon in Ordnung. Mir ist es lieber, du sagst, was du denkst, als dass du mich mit Samthandschuhen anfasst. Ich halte das aus. Und überhaupt hast du Recht, es ist tatsächlich sexistisch.«
      »Ja. Und noch schlimmer ist, dass er sie als Material für sein Schreiben benutzt. Als würde sie nur den Zweck erfüllen, ihm eine Inspirationsquelle zu sein, während sie gehängt wird. Für ihn war sie kein Mensch, kein Individuum.«
      »Ich frage mich, was für ein Mensch sie war«, sagte Kirsten nachdenklich.
      »Das werden wir nie erfahren, oder?«
      »Wahrscheinlich nicht. Aber so merkwürdig ist das im Grunde nicht, oder? Wie Hardy sie benutzt, meine ich. Sehen wir nicht alle in anderen Menschen lediglich Stichwortgeber in unserer eigenen Tragödie? Irgendwie sind wir alle ichbezogen.«
      »Das glaube ich nicht. Auf jeden Fall nicht in diesem Ausmaß.«
      »Wer weiß. Aber vielleicht wärst du überrascht.« Sie hielt ihr Glas hoch und Sarah leerte die Flasche. Kirsten fühlte sich schon ein bisschen beschwipst. Nach der Reise und der Verwirrung, in ihr altes Zimmer zurückzukehren, hatte der Wein eine stärkere Wirkung auf sie als sonst. Doch es war kein unangenehmes Gefühl. Sie nahm noch ein Stück Wensleydale.
      Sarah schüttelte die Weinflasche, grinste und sprang auf. Im Vorbeigehen zerzauste sie Kirstens kurzen Haarschopf. »Keine Angst«, sagte sie. »Ich vermute, wir brauchen heute mehr als die übliche Menge Alkohol. Wie sieht's mit Musik aus. Okay?«
      Kirsten zuckte mit den Achseln. »Gut.«
      Sarah schaltete den Kassettenrekorder an und verschwand hinter dem Vorhang in der Küche. Sie musste die Kassette schon vorher gehört haben, denn mit dem ersten Ton ging gerade ein Song zu Ende, ehe »Simple Twist of Fate« begann. Es war das zweite Stück auf Bob Dylans Blood on the Tracks, erinnerte sich Kirsten, und es war immer einer ihrer Lieblingssongs gewesen. Als sie jetzt Dylans heiserer, wehleidiger Stimme lauschte, während Sarah eine zweite Flasche öffnete, wurde ihr klar, dass der seltsame Text nicht das bedeutete, was sie immer geglaubt hatte. Nichts bedeutete mehr das Gleiche wie früher.
      Sarah kam mit einer größeren Flasche zurück und hob sie mit einer schwungvollen Bewegung hoch. »Da-da! Das ist jetzt echt billiger Fusel, aber ich glaube, in diesem Stadium geht das in Ordnung.«
      Kirsten lächelte. »Mit Sicherheit.«
      »Was hast du gemeint, als du sagtest, ich wäre überrascht?«, fragte Sarah, nachdem sie die Gläser gefüllt und sich hingesetzt hatte. »Was würde mich überraschen?«
      Kirsten runzelte die Stirn. »Ich musste an den Mann denken, der mich überfallen hat«, sagte sie. »Für ihn war ich auch kein Mensch, kein Individuum, oder? Ich war nur ein praktisches Symbol für das, was er hasst oder wovor er
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