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Das stumme Lied

Titel: Das stumme Lied
Autoren: Peter Robinson
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genügen, sie zu überführen? Vielleicht. Doch sie hatte von Anfang an gewusst, dass die ganze Sache voller Risiken steckte. Nur dass es in ein solches Chaos ausarten würde, damit hatte sie nicht gerechnet.
      Es bestand auch die Möglichkeit, dass die Polizei von der Perücke und den Kleidungsstücken erfuhr, die sie in Scarborough gekauft hatte, doch das war sehr unwahrscheinlich. Sie hatte absichtlich große, gut besuchte Kaufhäuser gewählt, in denen ihr keine Verkäuferin große Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Seit ihren Einkäufen hatten die Verkäuferinnen bestimmt schon hunderte anderer Kunden bedient. Dann fiel ihr die dürre Frau mit dem großen Kopf ein, die Raucherin, die sie auf der Damentoilette erschreckt hatte. Die könnte sich an sie erinnern. Aber was soll's. Sie wusste nur, dass Sue in einem Kaufhaus in Scarborough zur Toilette gegangen war. Das war nichts Ungewöhnliches. Auch eine andere Frau hatte an diesem Tag mit ihr gesprochen. Sie erinnerte sich, wie sie sich neben einer Frau geschminkt hatte, die sich über ihren Mann lustig gemacht hatte, weil er immer sagte, sie brauche so lange auf der Toilette. Doch das spielte alles keine Rolle. Wie jeder es tun würde, hatte sie während ihres Aufenthaltes in Whitby mit einer Menge Leute gesprochen.
      Nein, es gab keinen Grund, sich Sorgen zu machen. Außerdem stand sie unter göttlichem Schutz, jedenfalls bis sie ihr Schicksal erfüllt hatte. Die Seelen, die sie führten, würden kaum zulassen, dass sie scheiterte, nachdem sie so weit gegangen war. Trotzdem war es klug, vorsichtig zu sein, die Aufgabe schnell zu erledigen und dann die Stadt zu verlassen. Es wäre unsinnig, nur für das Vergnügen, etwas länger mit ihrer Beute zu spielen und Greg Eastcote Tag für Tag paranoider werden zu sehen, den Hauptgrund ihres Besuches zu gefährden. Sie tat dies alles nicht aus Grausamkeit oder aus Spaß an der Freude. Zudem würde er immer vorsichtiger werden. Wenn möglich sollte es am besten heute Abend geschehen.
      Wie Sue nicht anders erwartet hatte, schien der Stu-dentinnen-Schlitzer vollkommen von den Seiten des Independent verschwunden zu sein. Und lebend würde er dort auch nicht mehr auftauchen. Nachdem sie ihn getötet hatte, würde die Polizei mit etwas Glück sein Haus durchsuchen und die sieben Haarsträhnen finden.
      Sie würden die Termine und Zielorte seiner nächtlichen Liefertouren überprüfen und herausfinden, wer er war und was er getan hatte. Mit etwas Glück würden sie außerdem annehmen, dass ihm diesmal ein Opfer überlegen gewesen war, und deshalb nicht mit allen Mitteln ihre Identität herausfinden wollen.
      Nach dem Essen kehrte Sue in die Gegend der Fabrik zurück. Eastcote könnte auf einer kurzen Tour in der Umgebung sein und jederzeit zurückkommen. Zunächst beobachtete sie die Fabriktore auf dem Bauch liegend vom Wald aus, abends ging sie dann in den Merry Monk und setzte sich an ihren Stammtisch vor dem Fenster. Wenn sie in einem unbeobachteten Moment die Gardine ein Stückchen zur Seite zog, konnte sie das abfallende Brachland hinab direkt bis zu Eastcotes Haus schauen. Sie würde warten, bis er nach Hause kam, dann würde sie ihn irgendwie herauslocken. Vielleicht aus Vorsicht hatte er bisher nicht in seiner Heimatstadt zugeschlagen, doch dieses Mal würde er sich nicht davon abhalten können.
      Kurz nach sieben sah Sue ihn heimkehren. Hinter den hellblauen Gardinen gingen die Lichter an. Unsicher, wie sie ihn herauslocken sollte, trank sie aus und verließ den Pub. Anstatt auf die Straße zurückzukehren, den Berg hinunterzugehen und nach rechts in Eastcotes Straße einzubiegen, marschierte sie geradewegs über das Brachland, wo sie von allen Seiten leicht gesehen werden konnte. Die Sonne war mittlerweile fast untergegangen und am westlichen Himmel leuchteten gleichmäßige dunkelviolette, scharlachrote und purpurne Streifen. Der Kondensstreifen eines Düsenflugzeugs zog sich über den westlichen Horizont und löste sich schnell auf. Vom letzten Licht wurden ein paar Wolken rot gefärbt. Während sie sich ihren Weg durch das Unkraut bahnte, klammerten sich Nesseln und Disteln an Sues Beine, doch sie spürte keinen Schmerz.
      Sie könnte an seine Tür klopfen oder vielleicht anrufen. Doch hatte sie kein Telefon gesehen, als sie im Haus gewesen war. An die Tür zu klopfen, war zu riskant. Er könnte schnell reagieren und sie hineinzerren. So ging sie einfach langsam hinunter zur Straße und blieb vor
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