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Das stumme Lied

Titel: Das stumme Lied
Autoren: Peter Robinson
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versteigert wurde, erhob sich das Durcheinander der Gebäude den ganzen Hügel hinauf bis zu der eleganten Reihe der Hotels, die die East Terrace bildeten.
      Sorglos und lächelnd spazierten die Leute vorbei: ein Liebespaar, dessen männlicher Teil seinen Arm so tief um das Mädchen gelegt hatte, dass seine Hand praktisch in der Gesäßtasche ihrer engen Jeans steckte; zwei ältere Damen, vornehm in kariertem Tweed und Schnürschuhen, die eine mit einem Spazierstock; eine schwangere Frau, die vor Gesundheit strotzte, während ihr Mann stolz neben ihr herging.
      All diese Normalität, dachte Sue. All diese normalen Leute, die sich nur um sich kümmerten, die miteinander Spaß hatten, Eis aßen und grelle Strandbälle auf der Straße hüpfen ließen und keine Ahnung von dem Ungeheuer in ihrer Mitte hatten.
      Sie hatten keine Ahnung, dass Greg Eastcote sechs Frauen ermordet und eine verstümmelt hatte, dass er mit einem scharfen Messer mit Knochengriff in ihre Sexualorgane gestoßen und sie, nur um sicherzugehen, dass sie tot waren, schließlich erwürgt hatte. Und wenn er das getan hatte, wenn er seine grausame Operation beendet hatte, schnitt er jeder geschwollenen und blutenden Leiche eine einzelne Haarsträhne ab, nahm sie mit nach Hause, band sie mit einem rosafarbenen Band zusammen und legte sie ordentlich in die Schublade seines Eichenschranks. Sechs Stück in einer Reihe. Nun sieben.
      Den Presseartikeln zufolge, die Sue gesammelt hatte, hatte er keines seiner Opfer vergewaltigt. Dazu war er eindeutig unfähig, und die Wut, die er Frauen gegenüber empfand, weil sie seinen Zustand angeblich verursacht hatten, erklärte teilweise seine Handlungen. Aber nur teilweise. Es gab eine enorme Kluft zwischen seinen Motiven und seinen Taten, die niemand verstehen konnte. In einer Vision war ihm der Dunkle in einer Verzerrung von Caedmons Geschichte erschienen und hatte ihm gesagt, er solle sein eigenes Lied singen. Und das hatte er getan. Nur dass sein Begleitinstrument keine Laute war, sondern ein Messer. Und das Stück, das er daraufspielte, war der Tod.
      Sue wollte auf das Brückengeländer springen und all dies den selbstgefälligen Urlaubern zurufen, die unterwegs zum Strand oder in die Spielhallen waren. Sie würden ihre Münzen in Schlitze stecken, dem Bingoansager zuhören oder auf gestreiften Liegestühlen am Strand in der Sonne sitzen, mit Zeitungen ihre Gesichter abdecken und jedes Mal zurückrutschen, wenn die Flut näher kam. Dann, am späten Nachmittag, würden sie in eines der vielen Fish-and-Chips-Restaurants essen gehen.
      Keiner von ihnen wusste von dem Mann mit dem öligen Fischgestank an den Fingern - wahrscheinlich das Letzte, was seine Opfer rochen -, den Augen des alten Matrosen und der heiseren Stimme. Sie wollte ihnen allen von Greg Eastcote und den Gräueltaten erzählen, die er gegen Frauen begangen hatte, von dem ganzen Blut, dem Schmerz, der totalen Erniedrigung und Demütigung, und wie sie unvollständig wieder zusammengeflickt worden war. Sie wollte es all den großartigen Leuten erzählen ... diesem Mann dort mit der beginnenden Glatze und dem schreienden Kind auf dem Arm wollte sie versichern, dass sie hier war, um das Gleichgewicht wieder herzustellen. Doch sie war nicht verrückt; sie wusste, dass sie nichts sagen durfte. Stattdessen schaute sie nur eine Weile zu, wie die Leute über die Brücke gingen, und fragte sich, ob sie wirklich unschuldig waren oder lediglich gleichgültig. Dann ging sie weiter und suchte einen ruhigen Pub.
      Bald entdeckte sie ein Lokal in der Baxtergate. Drei gelangweilt aussehende Punks mit grüngelben Haaren saßen im Saal und spielten an der Jukebox, doch durch einen Flur neben der Theke, vom Saal durch Pendeltüren getrennt, gelangte man in einen wesentlich ruhigeren Raum, völlig mit dunklen Paneelen verkleidet und mit harten Stühlen und Bänken eingerichtet. Sue fiel ein, dass sie bisher weder in die Zeitungen geschaut noch seit dem spärlichen und fettigen Frühstück bei Mrs Cummings etwas gegessen hatte. Der Tee bei Rose's war so schlecht gewesen, dass sie keine Lust verspürt hatte, das Essen auszuprobieren. Da der Pub lediglich kalte Snacks anbot, bestellte sie ein Krabbensandwich und ein halbes Pint Lager mit Limone.
      Nachdem sie gegessen hatte, lehnte sie sich mit ihrem Bier zurück, zündete sich eine Zigarette an und widmete sich zuerst der Lokalzeitung, um zu sehen, ob es Neuigkeiten von Keith gab. Aus einem kurzen
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