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Das stumme Lied

Titel: Das stumme Lied
Autoren: Peter Robinson
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die ganze Stadt und ihre Mischung aus Vertrautheit und Fremdheit raubte Kirsten den Atem. Fünfzehn Monate lang war sie nur ein Ort in ihrer Erinnerung gewesen, eine abgetrennte Welt, in der bestimmte Dinge passiert und zu den Akten gelegt worden waren. Jetzt, da sie tatsächlich mit einem Taxi durch diese Stadt fuhr, hatte sie das Gefühl, als würde sie sich ihre Umgebung nur einbilden. Sie befand sich nicht mehr in der realen Welt; sie befand sich in einem Bild, einer Fantasielandschaft.
      Als sie bei der Wohnung ankamen, wurde es bereits dunkel. Kirsten folgte Sarah die Treppe hinauf und erinnerte sich eher körperlich als geistig daran, wie oft sie diesen Weg schon gegangen war. Jede Zelle ihrer Füße erinnerte sich an den rissigen Linoleumboden, über den sie ging, und in ihrer Fingerspitze schien die Erinnerung an den Lichtschalter eingeschrieben zu sein.
      Als sie ihr Zimmer betrat, hatte sie das Gefühl, wie trügerisch es auch sein mochte, am Ende einer Reise angelangt zu sein. Sie kannte dieses Gefühl von früher, wenn sie nach Vorlesungen oder ermüdenden Seminaren nach Hause gekommen war. Sie erinnerte sich an Tage, die sie mit einer Erkältung oder Halsschmerzen lesend im Bett verbracht hatte, wobei sie die Schatten der Häuser gegenüber langsam die Wand hinauf und über die Decke hatte kriechen sehen, bis es im Zimmer so dunkel geworden war, dass sie ihre Leselampe anschalten musste.
      Sie stellte ihre Reisetasche in der Ecke ab und schaute sich um. Einige ihrer Sachen befanden sich noch an ihren ursprünglichen Stellen: ein paar Bücher und Kassetten im Hauptzimmer und Becher und Gläser in der kleinen Küchennische. Sarah hatte lediglich Platz für ihre eigenen Sachen freigeräumt. Den Schrank konnte sie benutzen, weil Kirsten die meisten ihrer Kleidungsstücke mitgenommen hatte, zudem hatte Sarah einige von Kirstens Büchern und Unterlagen in einen Karton verstaut, um auf den Regalen und dem Schreibtisch Platz für ihre eigenen zu haben.
      »Und?«, meinte Sarah und sah sie an. »Hat sich nicht besonders verändert, oder?«
      »Nein, wirklich nicht. Ich bin überrascht.«
      »Bedrückt es dich, wieder hier zu sein?«
      »Nein«, sagte Kirsten. »Ist okay. Obwohl, sicher bin ich mir nicht. Es ist ein seltsames Gefühl, schwer zu erklären.«
      »Tja, mach dir darüber keine Gedanken. Setz dich erst mal hin. Möchtest du einen Tee? Wein gibt es auch. Ich habe eine Flasche da. Ich dachte, du würdest am ersten Abend lieber hier bleiben.«
      »Ja, super. Ich habe keine besondere Lust auszugehen. Ich bin ein bisschen müde und schlapp. Aber ein Glas Wein trinke ich gern.«
      Sarah holte die Flasche aus dem kleinen Kühlschrank und hielt sie hoch. Der Wein hatte eine blassgoldene Farbe. »Aus Australien«, sagte sie. »Ein Chardonnay. Soll ganz gut sein.« Sie nahm zwei Gläser aus dem Geschirrständer und suchte im Küchenschrank nach einem Korkenzieher. Nachdem sie ihn gefunden hatte, schenkte sie die Gläser voll und brachte sie rüber. »Käse? Ich habe ein Stück Brie und etwas Wensleydale.«
      »Ja, gerne.«
      Sarah trug den Käse mit einer Auswahl Kekse auf einem Tablett der Tetley's Brauerei herein, das sie aus dem Ring O'Bells hatte mitgehen lassen. Kirsten bediente sich und hob dann ein Buch auf, das neben dem Sessel gelegen hatte und ihr ins Auge gefallen war - eine dicke Biografie über Thomas Hardy. »Liest du das gerade?«, fragte sie.
      Sarah nickte. »Ich überlege, meinen Doktor in viktorianischer Literatur zu machen, und du weißt ja, wie sehr ich Biografien liebe. Ich dachte, es könnte eine angenehme Art sein, wieder in die Uniarbeit reinzukommen.«
      »Und, ist es so? Ich meine, Hardy ist nicht gerade eine leichte, heitere Lektüre, oder?«
      Sarah lachte. »Ich weiß nicht, ob er ein Pessimist war, doch auf jeden Fall war er ein perverses Schwein.«
      »Echt?«, meinte Kirsten. »Ich habe nur Fern vom Treiben der Menge gelesen, für das Romanseminar im ersten Jahr. An viel kann ich mich nicht mehr erinnern, nur dass irgend so ein Soldat mit seinen Fechtkünsten angegeben hat. Das war wahrscheinlich phallisch gemeint, oder?«
      Sarah lachte. »Ja, aber das meinte ich nicht. Diesen Symbolismus benutzen bis zu einem gewissen Grad alle Schriftsteller, oder?«
      »Was meinst du dann?«
      »Also, wusstest du zum Beispiel«, begann Sarah, »dass er als Jugendlicher gerne bei öffentlichen Hinrichtungen zugeschaut hat? Besonders
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