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Das stumme Lied

Titel: Das stumme Lied
Autoren: Peter Robinson
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des Seiles hin und her gebaumelt war.
      Am nächsten Tag ging Sarah in den Buchladen, und Kirsten verbrachte den Vormittag damit, die Orte auf dem Campus zu besuchen, an denen sie sich früher aufgehalten hatte: die Cafeteria, wo sie zwischen den Vorlesungen Freunde getroffen hatte, die Bücherei, wo sie für ihr Examen gebüffelt hatte. Sie schlenderte sogar in einen leeren Vorlesungssaal und stellte sich vor, wie Professor Simpkins über Miltons Areopagitica schwadronierte.
      Obwohl sie ihn auf dem Hinweg gemieden hatte, ging Kirsten zurück durch den Park. Als ihre Füße dem vertrauten Asphaltweg durch die Bäume folgten, fühlte sie überhaupt nichts, doch als sie den Löwen erreichte, dessen Kopf immer noch blau angesprüht war und dessen Körper wie damals mit roten Graffiti übersät war, begannen ihre Hände zu zittern. Unfähig, sich zu stoppen, ging sie hinüber zur Skulptur.
      Es war kurz nach zwölf. In der Nähe spielten Kinder auf den Schaukeln und Wippen. Vom Feld hinter der niedrigen Hecke konnte man das Klackern der Bowlingkugeln hören, und ein paar Leute lagen im Gras, hörten Musik aus tragbaren Kassettenrekordern oder lasen. Aber Kirsten war extrem unruhig. Sie hatte das Gefühl, sie wäre irgendwie an einen tabuisierten Ort gestolpert, einen verfluchten Platz, den die Eingeborenen mieden. Und ehe sie sichs versah, saß sie rittlings auf dem Löwen und zog die amüsierten Blicke zweier Studenten auf sich, die in der Nähe auf dem Gras Karten spielten. Alles geschah ganz schnell. Der Fischgestank nahm ihr den Atem und am Rande ihres Blickfeldes wurde alles dunkel. Dann sah sie ihn und hörte seine krächzende Stimme und sah die Klinge im Mondlicht aufblitzen. Sie sprang hinab und hastete bebend davon.
      Als sie unter der Baumallee weiterging, verfluchte sie sich dafür, dass sie sich der Angst ergeben hatte. Für das, was sie tun musste, würde sie allen Mut und alle Kraft benötigen, und verschreckt vor einer Einbildung davonzulaufen war ein schlechter Anfang. Doch irgendwie war die Fantasie für sie jetzt beängstigender geworden als die Wirklichkeit. Das musste ein gutes Zeichen sein. Es war Zeit zu gehen.
      Zuerst ging sie zurück in die Wohnung und hinterließ eine Nachricht für Sarah, dann ging sie in die Stadt. Nachdem sie ein paar notwendige Dinge für die Reise eingekauft hatte, machte sie sich auf den Weg zur Bushaltestelle. Ungefähr drei Stunden später, an einem klaren Nachmittag Anfang September, kam Martha Browne in Whitby an, überzeugt von ihrem Schicksal.
     
     

* 47
    Susan
     
    Wie eine schattenhafte weibliche Gestalt aus einem Roman von Hardy, die auf der windumtosten Heide steht und auf ihren Liebhaber wartet, stand Sue in der sich verdichtenden Dunkelheit und beobachtete, wie Greg Eastcote seine Gartenpforte schloss und auf dem Feldweg in ihre Richtung ging.
      Bevor er zu nahe kam, wandte Sue ihm den Rücken zu und ging den Weg weiter. Auf der Hauptstraße, die sie bald erreichte, waren nur wenige Menschen unterwegs, doch die Straßenlaternen spendeten ausreichend Licht. Ihn eher hinter sich spürend als sehend setzte Sue ihren Weg fort und gelangte an die Kreuzung Bridge Road, hinter der die Straße enger wurde. Sie war wieder im touristischen Teil der Stadt, auf der mit Kopfstein gepflasterten Straße, wo sich die Souvenirläden befanden, das Monk's Häven, das Black Horse. Zu dieser Zeit am Abend waren jedoch alle Geschäfte geschlossen. In den Schaufenstern funkelten die polierten Gagatsteine in ihren Gold- und Silberfassungen, und die Emailletabletts, auf denen den ganzen Tag über Karamell mit Kaffee- oder Pfefferminzaroma lag, standen leer da. All die fröhlichen Urlauber waren zurück in ihren Pensionen und sahen fern oder hatten es geschafft, ihre Kinder ins Bett zu stecken und allein auf ein ruhiges Bier in den Pub zu gehen. Auf den Straßen waren nur Liebespaare und Vampire.
      Mit den Händen in den Taschen ihrer Windjacke ging Sue entschlossen weiter. Sie hatte die ganze Zeit gewusst, wohin sie wollte, wurde ihr klar, doch dieses Wissen war instinktiv und körperlich statt in ihrem Bewusstsein verankert gewesen. Er war noch hinter ihr, bewegte sich jetzt vorsichtiger und beeilte sich nicht, sie einzuholen. Vielleicht bekam er allmählich Angst. Als sie die Treppe erreichte, begann sie hinaufzusteigen und aus Gewohnheit die Stufen zu zählen. Der Weg hinauf auf die Klippe war dunkel und verlassen, keine Straßenlaternen leuchteten ihr den
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