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Das stumme Lied

Titel: Das stumme Lied
Autoren: Peter Robinson
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Angst hat.«
      »Hätte es einen Unterschied gemacht?«
      »Keine Ahnung. Hätte es einen Unterschied gemacht, wenn es jemand gewesen wäre, den ich kannte? In einer Beziehung hätte es einen Unterschied gemacht: Ich wüsste, wer mir das angetan hat.«
      »Und?«
      »Dann würde ich ihn umbringen.« Kirsten hob ihr Glas zu ruckartig hoch und verschüttete etwas Wein auf ihr Hemd. Sie klopfte sich auf die Brust. »Egal«, sagte sie. »Das trocknet wieder.«
      »Auge um Auge?«
      »So in der Art.«
      Sarah schüttelte langsam den Kopf.
      »Ich bin nicht verrückt«, fuhr Kirsten fort. »Aber ich meine es so. Es gab Zeiten ... Manchmal glaube ich, er hat mich mit einer Krankheit wie Aids angesteckt, nur im Kopf. Oder mit Vampirismus. Kannst du dir vorstellen, wie all diese aufgeschlitzten Frauen aus ihren Gräbern steigen und Jagd auf Männer machen? Ich bin zwar nicht gestorben, doch ein Teil von mir vielleicht schon. Vielleicht habe ich etwas von einer Untoten in mir.«
      »Das ist doch blödes Geschwätz, Kirstie. Vielleicht liegt es am Alkohol. Willst du mir erzählen, du bist zu einer Vampirversion vonjoan D'arc geworden? Hör auf!«
      Kirsten musterte sie und merkte, wie ihr Bild verschwamm. Mein Gott, dachte sie, ich lasse mich gehen. Ich hätte es ihr beinahe erzählt. Sie lachte und griff nach einer Zigarette. »Du hast Recht«, sagte sie. »Natürlich nicht. Es war nur theoretisch gemeint.«
      »Na, Gott sei Dank«, sagte Sarah. Die Musik ging zu Ende und sie stand auf und drehte die Kassette um.
      Während die beiden sich unterhielten, schaute Kirsten hin und wieder zu den Fenstern der Zimmer und Wohnungen auf der anderen Straßenseite, so wie sie es in vergangenen Jahren getan hatte. Irgendwann fiel ihr auf, dass »Shelter from the Storm« lief, ebenfalls einer ihrer Lieblingssongs. Tränen brannten in ihren Augen, doch sie hielt sie zurück.
      Gegen Mitternacht begann Kirsten mitten in einer von Sarahs Geschichten über einen pensionierten Brigadegeneral, der aus Versehen in den Frauenbuchladen Harridan geschlendert kam, zu gähnen.
      »Ich langweile dich, oder?«, fragte Sarah.
      »Nein. Ich bin nur müde. Muss am Wein und der Reise liegen. Wo schläft wer?«
      Sarah gähnte auch. »Jetzt hast du mich angesteckt. Was hältst du davon, wenn ich den Sessel nehme und du das Bett?«
      »Nein, das kann ich nicht annehmen.«
      »Es ist schließlich dein Zimmer. Ich habe mich nur darum gekümmert.«
      »Es war mein Zimmer. Ich nehme ein paar Kissen und schlafe auf dem Boden.«
      »Das ist doch albern. Da liegst du viel zu unbequem. Verdammt, das Bett ist groß genug, wir können beide drin schlafen.«
      Einen Augenblick sagte Kirsten nichts. Der Vorschlag machte sie nervös und verlegen. Sie wusste, dass es sich nicht um eine sexuelle Einladung von Sarah handelte, doch bei dem Gedanken an ihren zusammengeflickten Körper neben Sarahs weicher, makelloser Haut errötete sie.
      »Ich habe kein Nachthemd dabei«, sagte sie.
      »Kein Problem. Ich kann dir einen Pyjama leihen. Okay?«
      »Okay.« Kirsten war zu müde zum Diskutieren, und der Gedanke, im Bett zu schlafen, das einmal ihres gewesen war, war verlockend. Als sie aufstand, schwankte sie ein wenig. Sie hatte wirklich zu viel getrunken.
      Sie machten sich beide fürs Bett fertig und zogen die Vorhänge zu. Kirsten beobachtete, wie Sarah ihr T-Shirt über den Kopf zog und sich aus ihrer engen Jeans schälte, dann nackt dastand und vor dem Spiegel unbefangen ihre blonden Haare bürstete. Mit der Bewegung der Arme hüpften ihre Brüste leicht auf und ab, und unter ihrem flachen Bauch schimmerte das gelockte, goldene Haar zwischen ihren Beinen.
      Kirsten zog sich ganz zum Schluss aus, im Dunkeln, damit Sarah ihre Narben nicht sehen konnte, und nachdem sie zwischen die frisch bezogenen Laken geschlüpft war, blieb sie so nah wie möglich an der Bettkante liegen, um jede zufällige Berührung zu vermeiden.
      Doch ihre Sorgen waren unnötig. Sarah hatte sich zur Wand unterhalb des Fensters gedreht und atmete bald langsam und gleichmäßig. Kirsten lauschte eine Weile, fühlte sich leicht benommen und schwindelig und verfluchte sich, weil sie Sarah beinahe alles erzählt hätte, was sie wusste oder gar zu tun beabsichtigte. Schließlich schlief sie ein und träumte von Martha Browne, dieser unbekannten Frau in Schwarz, die vor über hundert Jahren im dunstigen Regen von Dorchester am Ende
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