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Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien

Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien

Titel: Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien
Autoren: Britta Hasler
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Wochen war der Schnee von den Straßen Wiens verschwunden, und in den Beeten zwischen den noch kahlen Kastanien blühten die ersten Schneeglöckchen.
    An der Wand zwischen den Fenstern hinter einem einfachen Schreibtisch hing eine Fotografie. Sie zeigte zwei Männer mit entblößtem Oberkörper. Der eine hatte fingerdicke längliche Narben in der Mitte des Bauches. Bei dem anderen war es ein wulstiger dunkler Knoten, der direkt unter dem linken Rippenbogen prangte. Julius Pawalet und Rudolph Lischka hatten sich zu dieser makabren Aufnahme entschieden, nachdem sie ein neues Klingelschild an den Eingang von Lischkas Wohnung geschraubt hatten. Lischka & Pawalet, Privatdetektei stand dort in schlichten schwarzen Buchstaben. Die Fotografie sollte sie an die Umstände erinnern, denen sie gemeinsam entronnen waren.
    Die ersten Kunden des Detektivbüros starrten staunend auf das Bild über dem Schreibtisch. Doch da ganz Wien mittlerweile die Geschichte des ehemaligen Inspektors und des einstigen Saaldieners kannte, wurde das Bild von denen, die es zu Gesicht bekamen, als schaurige Dokumentation derjenigen angesehen, die als Einzige den heimtückischen Angriff des Bildermörders überlebt hatten.
    Anfang März schaltete Lischka eine große Anzeige in der Neuen Freien Presse , in der er für die Detektei warb. Schon am nächsten Tag traten sich die Kunden vor der Wohnung die Füße platt, und die Nachbarn drohten mit einer Anzeige wegen Ruhestörung. An den ersten Tagen gelang es den beiden Männer kaum, die Termine der zahlreichen Klienten sinnvoll zu koordinieren. So groß war der Andrang der Männer und Frauen, die herausfinden wollten, ob ihr Ehepartner sie hinterging, der verzweifelten Menschen, die ein verschwundenes Familienmitglied suchten, und derjenigen, die geheimnisvollen Dingen nachspüren wollten, bei denen man die Polizei nicht einschalten konnte. Mitte März gab es eine erste Kundenkartei, und Lischka wies Julius in die Grundlagen dieser Arbeit ein.
    Eines Tages, Julius war gerade allein im Büro, klingelte es an der Tür. Er ging und öffnete. Vor ihm stand Colette.
    Der Schreck über den unverhofften Anblick der schwarzhäutigen Frau fuhr ihm wie ein Schlag in die Glieder.
    „Colette …“, stammelte er und erschrak über die Angst, die in seinem Innern aufkeimte wie ein vergessenes Samenkorn.
    „Ich soll etwas abgeben“, verkündete sie und überreichte Julius einen Umschlag. „Und Grüße bestellen.“
    „Von wem?“, fragte er argwöhnisch.
    Da verzog Colette ihr Gesicht zu einem wissenden, herablassenden Lächeln, das er der unterwürfigen Frau niemals zugetraut hätte.
    „Sie wissen, von wem“, sagte sie und wandte sich zur Treppe.
    Mit zitternden Fingern öffnete Julius den Umschlag. Darin befanden sich nur eine kleine Visitenkarte und ein Brief. Er faltete ihn auseinander und las die zierlich hingeschriebenen Worte, während sich in seinem Nacken ein grausames Insekt bis in seine Wirbelsäule biss.

    Julius,
    es freut mich zu hören, dass auch Du nun den Segen der Selbstständigkeit genießt. Eine Freiheit von unschätzbarem Wert für Wesen, die wie Du und ich geartet sind. Schau Dir die beigelegte Karte an. Ich weiß, dass Du kommen wirst.
    Luise

    Mit klopfendem Herzen nahm Julius die kleine Karte. Das seidenglatte Papier wurde sofort feucht in seinen Händen. In zarten Lettern stand dort:

    L. S.
    Sprachenschule
    Sterngasse, Ecke Marc-Aurel-Straße

    Irritiert starrte Julius auf die Schrift. Luise tarnte ihr Etablissement also als Sprachenschule. Er hatte von derartigen Fällen schon gehört – dass selbstständige Frauen, die in jenem Milieu tätig waren, ganze Bordelle unter den unverfänglichsten Firmennamen verbargen. Er schluckte. Und natürlich behielt Luise recht: Zwei Wochen später hatte er seine Skrupel und seinen Stolz so weit eingekocht, dass er sich auf den Weg machte, natürlich ohne Lischka etwas davon zu erzählen.
    Es war ein trüber, aber milder Apriltag. Die Amseln sangen unermüdlich in den Ästen. Die Bäume waren vom flirrenden Hellgrün des Frühlings umsponnen. Die Straßen lagen in jenem zaghaften Licht, das die Erleichterung, dem Winter entkommen zu sein, an jede Hauswand malte.
    Er verließ die Elektrische am Burgtheater und machte sich mit gesenktem Blick auf den Weg in die Innere Stadt. Am Hohen Markt begann sein Herz so heftig zu schlagen, dass er den Widerhall seiner Aufregung bis unter die Schädeldecke spürte.
    Er sah auf, um sich zu orientieren – und
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