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Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien

Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien

Titel: Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien
Autoren: Britta Hasler
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beunruhigt hätte? Das Ganze ist einfach lächerlich.« Er sah Sarah auffordernd an. Offensichtlich hoffte er auf Zustimmung. »Seht euch die Briefe an. Der letzte kam vor vier Wochen. Und? Ist irgendwas passiert? Nein. Man will uns nur einschüchtern, sonst nichts.«
    Sarah sah sich die drei weißen Standardumschläge an. Sie waren mit Briefmarken à 0,55 Euro aus dem Automaten frankiert und in Berlin abgestempelt. Der letzte Brief war vor zwei Tagen abgeschickt worden. Auch das Datum auf einem der zwei anderen Umschläge war deutlich zu erkennen: 11. Juli. Das Datum auf dem dritten war unleserlich.
    Retzlaff deutete auf den verwischten Stempel. »Das muss der Umschlag des Briefes sein, der Ende September kam. Kurz nach dem ersten Zeitungsartikel.«
    »War der so wie die letzten beiden?«, fragte Sarah.
    »Ganz und gar nicht«, sagte Jamil und bedachte seinen Kompagnon wieder mit einem wütenden Blick. »Es war ein Interview mit Vanderbek, der sich sehr zurückhaltend und sachlich zu seinem Buch geäußert hat. Der will sich doch nicht selbst in Gefahr bringen. Im Gegenteil. Er hat betont, dass die meisten Muslime keine Fanatiker sind und dass viele von ihnen großes Interesse daran haben, den Koran richtig zu verstehen. Seine Hoffnung ist, dass das Buch den Dialog zwischen den Religionen voranbringt.«
    Sarah wandte sich an Retzlaff. »Weiß er … also dieser Vanderbek, von den Drohbriefen?«
    »Nein. Ich habe niemandem davon erzählt. Außerdem ist er als Gastprofessor für ein Jahr in den USA.«
    Nachdenklich blickte sie auf die Briefe, die jetzt nebeneinander auf dem Küchentisch lagen. »Der erste kam also fast drei Monate vor dem Interview mit ihm. Wurde das Werk schon vorher irgendwo angekündigt?«, fragte sie und zündete sich jetzt auch eine Zigarette an. Sie blickte sehnsüchtig zu dem geschlossenen Fenster, denn die Luft war zum Schneiden.
    Als hätte er ihre Gedanken gelesen, stand Jamil auf und stellte das Fenster auf kipp. »Klar. Auf unserer Website. Allerdings ganz nüchtern. Schließlich handelt es sich um eine sprachwissenschaftliche Analyse und nicht um ein Buch von Salman Rushdie. Auch wenn Uwe das lieber wäre.« Er wandte sich wieder seinem Kollegen zu. »Was hast du dir nur dabei gedacht? Soll uns der Laden hier um die Ohren fliegen, oder was? Es reicht mir schon, dass mich manche unserer Stammkunden nicht mehr grüßen.«
    »Also wirklich. Auf die paar Bärte können wir ja wohl verzichten«, sagte Retzlaff.
    Jamil ging zu seinem Stuhl zurück. »Das sind gute Kunden. Die kaufen viel, zahlen pünktlich, und höflich sind sie auch immer. Im Gegensatz zu dir.« Er blickte Retzlaff jetzt herausfordernd an.
    Sarah erinnerte sich, dass Jamil ihr einmal von den Vorlieben der religiösen Kundschaft erzählt hatte. Die kauften hauptsächlich arabische Übersetzungen ausgewählter schwedischer Kinder- und Jugendbücher, weil sie großen Wert darauf legten, dass ihr Nachwuchs vernünftige Bücher las. Für sich selbst holten sie selten etwas, denn Orientalia führte keine religiöse Literatur.
    »Nicht so wie deine Dichterkumpanen, die uns immer nur ein Ohr abkauen und unseren Tee trinken«, fuhr Jamil fort. »Außerdem wollten wir für alle da sein. Für Fachleute, interessierte Laien und für Menschen aus der Region. Unabhängig von der politischen Ausrichtung. Eine Anlaufstelle und Kontaktbörse. Wozu machen wir sonst die Lesungen und Veranstaltungen, die mehr kosten, als sie einbringen? Abgesehen davon sollte man es sich mit manchen Leuten lieber nicht verscherzen.«
    Sarah war überrascht. Sie hatte es noch nie erlebt, dass Jamil so leidenschaftlich auf seiner Position beharrte. Im Grunde genommen war es überhaupt nicht seine Art, sich mit jemandem anzulegen, und schon gar nicht, Schlag auf Schlag zu kontern. Retzlaff lächelte verschmitzt. Es war offensichtlich, dass er die Bedenken nicht teilte.
    »Freu dich, Jamil. Die Publicity hat das Geschäft angekurbelt. Jetzt bestellen Leute das Buch, die mit Linguistik oder Koranexegese eigentlich gar nichts am Hut haben. Die es vermutlich gar nicht lesen werden oder überhaupt können. Und wenn es erst ins Englische übersetzt ist … Stell dir das mal vor! Der Laden ist bekannt geworden, und wir haben uns gegenüber der Konkurrenz einen Vorteil verschafft.«
    Sarah wusste, dass Retzlaff damit auf seine Exfrau Gesine anspielte. Ursprünglich hatten sie die Verlagsbuchhandlung zu dritt betrieben. Doch nach der Trennung hatte sie ein eigenes Geschäft
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