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Taumel der Gefuehle - Roman

Taumel der Gefuehle - Roman

Titel: Taumel der Gefuehle - Roman
Autoren: Jo Goodman Beate Brammertz
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Prolog
    April, 1796
     
    »Ich würde sehr gerne Ihre Brüste sehen.«
    Madame Fortuna, geborene Bess Bowles, blickte angespannt über die Kristallkugel, die sie in Händen hielt. Ihre dunklen Augen verengten sich nur für den Bruchteil einer Sekunde, doch ihr Ausdruck ließ den jungen Kunden errötend zusammenfahren. Bess spürte, wie ihre Handflächen langsam warm wurden, als hielte sie anstelle des kühlen Kristalls der Kugel seine Wangen in Händen. Den Beruf der Wahrsagerin übte sie zwar mit einer gewissen Theatralik aus, jedoch ohne wirkliches Talent. Ihre Mutter und Großmutter hatten das zweite Gesicht besessen, und Bess hatte keine Kristallkugeln und Karten benötigt, um immer zu bemerken, welch seelische Qualen die beiden Frauen durch diese Begabung erleiden mussten.
    Bess Bowles begnügte sich damit, eine Hochstaplerin zu sein und Männern und Frauen, die es eigentlich besser wissen sollten, das Geld aus der Tasche zu ziehen. Sie war eine Attraktion und wurde auf prächtige Landsitze und in die besten Londoner Salons bestellt, um Gäste mit ihren Wahrsagekünsten zu unterhalten. Ihr war ein außergewöhnlich reiches Repertoire an Prophezeiungen und düsteren Warnungen zu eigen, und sie profitierte bereits seit über dreißig Jahren von der Sehnsucht der Menschen, das eigene Schicksal zu erfahren.

    Doch dieser Lümmel hatte nicht danach gefragt, was die Zukunft für ihn bereithielt, sondern wollte lediglich ihre Brüste sehen!
    Bedächtig schob Bess die Kristallkugel zur Seite und maß den Jungen durchdringend. Dieser hielt ihrem Blick stand, auch wenn es ihn sichtlich Mühe kostete. Mutiger, kleiner Soldat.
    Das Bild eines jungen, sehr gut aussehenden Mannes in Uniform traf Bess mit einer solchen Heftigkeit, dass sie ihre Verblüffung hinter einem heftigen Hustenanfall verbergen musste. Vielleicht verdiente sie tatsächlich den Beinamen Madame Fortuna. Dieser Gedanke verstörte Bess Bowles derart, dass sich die Vision in Luft auflöste. Da war es noch besser, dem Bengel ihre Brüste zu zeigen.
    Allein ein kleiner, runder Tisch trennte Bess von ihrem Kunden, den sie von Kopf bis Fuß musterte. Erneut stieg ihm die Schamesröte ins Gesicht, er verzog jedoch keine Miene. Das aschblonde Haar stand ihm störrisch vom Kopf ab, und Bess musste sich die dreiste Aufforderung des Jungen ins Gedächtnis rufen, um ihn nicht instinktiv anzulächeln. Stattdessen sollte sie ihm lieber eine Ohrfeige verpassen.
    »Wie alt bist du?«, fragte Bess barsch.
    Aufrichtig überrascht betrachtete er sie. »Das wissen Sie nicht?«
    Sie würde ihm eine Ohrfeige verpassen. »Sei nicht frech!«
    »Ich bitte Sie inständig um Verzeihung, Madame Fortuna«, war seine überaus reumütige Antwort. Gleichzeitig straffte er seine Schultern und setzte sich betont aufrecht hin, um seine hoch gewachsene Figur zur Geltung
zu bringen. Er erzielte jedoch nicht die gewünschte Wirkung. Nun erschienen seine Schultern im Vergleich zu der breiten Stuhllehne noch schmaler, und seine Füße baumelten einige Zentimeter über dem Fußboden. Stolz fuhr er dann fort: »An meinem nächsten Geburtstag werde ich...«
    »Zehn«, schnitt ihm Bess das Wort ab.
    »Ich bin zehn.«
    »Nun, das habe ich doch gesagt!«
    »Ich werde elf !«
    »Wirklich«, meinte Bess gedehnt. »Vor seinem elften Geburtstag kann einem Jungen sehr viel passieren.« Ihre Aussage schien große Wirkung auf den Knaben zu haben, denn er schluckte hart. Dies war eine viel bessere Strafe, als ihm eine Ohrfeige zu verpassen, dachte sich Bess. »Nun gut, mein junger Earl.«
    »Oh, ich bin doch gar kein...«
    Das wirst du aber ! Der Gedanke hatte sich Bess derart deutlich offenbart, dass sie beinahe glaubte, ihn laut ausgesprochen zu haben. Auch der Junge saß jetzt wie angewurzelt auf seinem Stuhl und starrte sie mit angsterfüllten Augen an. Doch Bess wusste, dass kein Laut über ihre zusammengekniffenen Lippen gekommen war. Wie also konnte er es wissen? Wie konnte sie es wissen?
    Abschätzig machte Bess eine Handbewegung. »Das bedeutet gar nichts«, meinte sie. »Jeden meiner Kunden nenne ich ›Mylord‹ oder ›Mylady‹. Sogar dem niedrigsten Bauern tut es gut, sich von Zeit zu Zeit aufspielen zu dürfen. Das ist alles.« Als Bess geendet hatte, musterte sie sorgfältig das Gesicht des Jungen. Seine Wangen hatten wieder ein wenig Farbe angenommen, waren allerdings
immer noch blass. Er wollte sich mit ihrer Erklärung zufrieden geben, war aber sichtlich auf der Hut. Und Bess verstand seine
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