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Das sechste Herz

Das sechste Herz

Titel: Das sechste Herz
Autoren: Claudia Puhlfürst
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hatten, und dann hineinkletterte.

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    Die haben gesagt, ich könnte alles aufschreiben. Das würde mir helfen. Ich bin doch nicht bescheuert. Natürlich würde es helfen, wenn ich alles aufschreibe. Aber nicht mir, sondern denen. Vieles wissen sie nämlich noch nicht. Und sollen sie auch nicht wissen. Ich erkläre doch denen nicht die Welt! Da müssen sie schon selbst ein bisschen nachdenken. Aber da liegt ja der Haken …
    Ich kichere ein bisschen und sehe mich um. Niemand in der Nähe. Ich bin ganz allein mit meinen Gedanken. Und ich kann denken. Im Gegensatz zu fast allen hier. Ich tue jetzt einfach so, als ob ich alles notiere. Damit wirke ich beschäftigt, und sie lassen mich in Ruhe. Die ewige Fragerei nervt mich schon seit Tagen. Ich muss nur darauf achten, dass sie die Aufzeichnungen nicht in die Hände bekommen, darf die Zettel nicht aus den Augen lassen, nicht zur Toilette gehen, nie das Zimmer verlassen. Wenn ich fertig bin, esse ich das Papier einfach auf.
    Wo soll ich beginnen? Bei Mark Grünthal diesem karrieregeilen Blender? Dem Retter der Welt? Allen konnte er etwas vormachen, nur mir nicht. Es war kaum zum Aushalten, wie er stets den liebevollen, verständnisvollen Therapeuten gegeben hat, einen, der alles und jeden versteht, der große Erfolge feiert und jeden Patienten so annimmt, wie er ist … Schwachsinn! Manche von den Typen sind einfach nicht heilbar, und viele wollen auch gar nicht therapiert werden, das wissen wir doch alle. Nur Mark hat immer so getan, als könne er jedem helfen.
    Ich kenne den guten Mark schon lange. Viel zu lange. So viele Jahre, seit wir uns im Hörsaal das erste Mal trafen. Es war eine schicksalhafte Begegnung, nur, dass wir beide das damals noch nicht ahnten. Doch schon nach wenigen Wochen schwante mir, was die Uhr geschlagen hatte. Mark Grünthal war wahrscheinlich schon am Gymnasium der Klassenstreber gewesen und versuchte nun, seine Erfolgsgeschichte nahtlos fortzusetzen.
    Sein Ziel war es, alle zu übertreffen, mich zu übertreffen.Mark Grünthal schnitt in den Prüfungen besser ab, Mark Grünthal wurde von den Professoren in den Himmel gelobt, Mark Grünthal strich das Leistungsstipendium ein, das eigentlich mir zustand … ich könnte Seiten damit füllen. Was ich aber nicht tun werde. Natürlich war ich nicht die Einzige, die er zu überflügeln versuchte, aber anscheinend die Einzige, der es etwas auszumachen schien. All die anderen nahmen es einfach als gegeben hin, dass jemand über ihnen stand, dass sie nicht an die Spitze gelangen konnten.
    Ich will nicht verschweigen, dass auch ich nicht schlecht abschnitt, aber ich brachte es in all der Zeit nicht ein einziges Mal fertig, ihn von Platz eins zu verdrängen. Immer war ich nur die Nummer zwei, und es gelang mir erst richtig, ihn zu überflügeln, als ich schon während des Studiums konsequent einen anderen Weg einschlug – Mark Grünthal wandte sich den Erwachsenen zu, ich den Kindern.
    Aber tatsächlich passten Kinder und Jugendliche auch besser. Sie bargen ein größeres Potenzial für meine geplante Arbeit in sich. Die Beschäftigung mit noch unfertigen, formbaren Individuen gab mir die Macht, meine geistigen Fähigkeiten auszuprobieren, zu testen, wie weit menschliche Seelen beeinflusst werden konnten. Und die Möglichkeiten waren immens, wie ich schon sehr bald feststellen sollte …
    Im Lauf der Jahre wurde ich immer besser, perfektionierte mein Vorgehen, fand zahlreiche Methoden, die kleinen Dummköpfe zu lenken, wohin immer ich es wollte. Medikamente, Suggestionen, Hypnose … Warum ich das getan habe?
    Das Ganze war ein privates Forschungsprojekt. Natürlich bin ich nicht verrückt . Ich weise keine Symptome all dieser Diagnosen auf, die in irgendeinem Klassifikationssystem aufgelistet sind. Ich bin ganz normal. So normal, wie man es nur sein kann. Die anderen haben die Defekte. Jeder Einzelne von ihnen. Manche von diesen kleinen Marionetten, die ich gemacht habe, laufen heute noch da draußen herum …
    Ich lege den Stift kurz beiseite, ehe ich weiterschreibe, verberge mein Lachen hinter der vorgehaltenen Hand. Die müssen nicht sehen, dass mich das Ganze ungemein amüsiert.
    Erst als Magnus Geroldsen mit seiner überfürsorglichen Mutter in meine Praxis kam, ahnte ich, was außer ein paar kleinen Psychospielchen mit minderbemittelten Bälgern noch möglich war. Was ich erreichen würde, wenn ich ein ebenbürtiges, wenn auch noch unreifes Hirn vor mir hatte, jemanden, der in Ansätzen ähnlich
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