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Das sechste Herz

Das sechste Herz

Titel: Das sechste Herz
Autoren: Claudia Puhlfürst
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dachte wie ich.
    Was für ein Glücksfall, dass mir dieses Studienobjekt in so jungen Jahren in die Hände fiel! Der Junge war gerade mal vierzehn geworden, als seine Mutter ihn das erste Mal zu mir in die Praxis brachte. Und schon so weit in seiner Entwicklung! Nein, gestört war er nicht, ist er nie gewesen. Das ist Eure Version der Dinge. Ich bin ja auch nicht gestört, oder? Er war noch nicht auf dem richtigen Weg, suchte nach Möglichkeiten, seinen Fähigkeiten freien Lauf zu lassen, aber mit der richtigen Führung würde er in ein paar Jahren so weit sein, mich zu übertreffen. Zumindest war ich zum damaligen Zeitpunkt davon überzeugt.
    Was hättet Ihr an meiner Stelle getan? So ein begabtes Kind konnte man sich doch nicht entgehen lassen. Die Macht über die Psyche eines anderen hat mich schon immer am meisten fasziniert.
    Natürlich habe ich Magnus geraten, die Therapie abzubrechen. Niemand sollte auf die Idee kommen, dass Magnus’ Entwicklung und ich etwas miteinander zu tun hätten. Ihr habt doch nicht im Ernst geglaubt, dass sein Vater dahintersteckte? Der hatte doch außer der Arbeit nur seine zahlreichen Freundinnen im Kopf. Frau und Kinder waren ihm vollkommen egal.
    Magnus und ich mussten unsere Beziehung im Geheimen ausbauen. Das hatte er auch schnell eingesehen. Und so verlegten wir unsere Verabredungen an verschiedene Orte, mal in ein Kinder- und Freizeitzentrum, mal in ein Café. Es gab unzählige Möglichkeiten, sich ungestört zu treffen …
    Fast drei Jahre lang arbeiteten wir miteinander. Magnus schien mir so formbar, sog jegliches, was ich ihm vermittelte, auf wie ein Schwamm, und doch war es nicht einseitig, auch ich habe viel von ihm gelernt, ob Ihr das jetzt glaubt oder nicht. Dass er in der Lage war, mich über ein Jahr über seinen unstillbaren Zorn auf seine drei Geschwister im Unklaren zu lassen, ist doch der beste Beweis dafür. Ich war ihm deswegen nicht böse, im Gegenteil. Ohne dass es ihm bewusst war, habe ich Magnus in seiner Aversion bestärkt. Ich war neugierig, wie weit er in seinem Hass gehen würde, und habe so getan, als wisse ich davon nichts. Manchmal gibt es Dinge, die muss man mit sich selbst ausmachen. So wie meinen nie versiegenden Hass auf Mark Grünthal.
    Könnt Ihr Euch den Verlust für mich vorstellen, als Magnus’ schönes Konzept nicht aufging und man ihn plötzlich wegen Mordes verhaftete? Er hatte nicht schlecht geplant, das muss ich eingestehen, und doch leider ein paar Kleinigkeiten übersehen. Vielleicht war er zu jung für so ein bemerkenswertes Vorhaben, hätte noch ein, zwei Jährchen warten müssen, aber im Nachhinein ist man immer schlauer.
    Ich bin kein Herzfetischist, falls Ihr das denkt. Nicht im Geringsten. Eigentlich hat mich erst Magnus mit seiner Besessenheit auf den Dreh gebracht. Er war derjenige, der damit angefangen hat. Ich habe das Ganze bloß fortgeführt, weiterentwickelt, verfeinert und meine späteren Studienobjekte diesbezüglich angeleitet. Studer hat am besten darauf reagiert. Es machte ihm sichtlich Spaß, zuerst den Tieren und später den tschechischen Nutten die Herzen bei lebendigem Leib herauszuschneiden … Aber zu Studer komme ich noch. Ich muss chronologisch vorgehen.
    Was glaubt Ihr, welchen Schock ich nach dem Verlust meines Lieblingszöglings erst erlitt, als ich erfahren musste, wer Magnus im Prozess begutachten würde? Mein Erzfeind: Doktor Mark Grünthal. Das Schicksal hatte mich eingeholt. Aber begegnet man sich nicht immer zweimal im Leben? Das Klischee scheint zu stimmen …
    Der liebenswerte Mark … so nett und harmlos. Seine Patienten schätzen ihn. Seine Familie liebt ihn. Er liest viel, bildet sich weiter, bemüht sich. »Er bemühte sich« – steht das nicht in Arbeitszeugnissen, wenn jemand nicht in der Lage ist, seine Aufgaben ordentlich zu erfüllen? Doktor Mark Grünthal bemühte sich, seine Patienten zu therapieren . Obwohl keiner von diesen Gestörten tatsächlich therapierbar ist, das schrieb ich ja weiter oben schon. Aber das wollen die meisten, die in Obersprung oder anderswo arbeiten, nicht begreifen. Sonst könnten sie ja ihren Beruf gleich aufgeben. Ist ja sinnlos, das Ganze. Die ganzen Maßregelvollzugspatienten könnte man gleich nach ihrer Einweisung entsorgen. Sie sind minderwertige Ware, Ausschuss. Weg damit. Der einzige Sinn, den ihre weitere Existenz noch hat, ist es, als Studienobjekte zur Verfügung zu stehen. Man kann Experimente mit ihnen machen, wie ich es getan habe, und ihre
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