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Das Schwert des Liktors

Das Schwert des Liktors

Titel: Das Schwert des Liktors
Autoren: Gene Wolfe
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fensterlosen Zimmer.
    Seinen Reichtum verdankt es der Lage am Scheitel des schiffbaren Teils des Flusses. Zu Thrax müssen alle Güter, die auf dem Acis nach Norden transportiert worden sind (wovon viele neun Zehntel des Gyoll befahren haben, bevor sie zur Mündung des kleineren Flusses, der vielleicht wirklichen Quelle des Gyolls, gelangt sind), auf Packtiere verladen werden, soll die Reise weiter gehen. Umgekehrt lassen die Hetmans der Gebirgsstämme und die Grundbesitzer der Gegend ihre Wolle und ihr Korn zu Thrax unterhalb der Wasserfälle, die sich in den überwölbten Abflußkanal von Burg Acies ergießen, verschiffen.
    Wie immer, wenn eine Festung in einer turbulenten Region für Recht und Ordnung sorgen muß, so war auch für den Archon von Thrax die Rechtspflege ein Hauptanliegen. Zur Durchsetzung seines Willens außerhalb der Mauern, wo man sich nur ungern einer Obrigkeit beugte, konnte er auf sieben Dimarchi-Schwadronen unter jeweils eigenem Kommando zurückgreifen. Das Gericht tagte monatlich, vom ersten Neumond bis zum Vollmond gerechnet, begann mit der zweiten Morgenwache und endete erst, wenn alle anhängigen Fälle erledigt waren. Als oberster Vollstrecker der Urteile hatte ich diesen Sitzungen beizuwohnen, auf daß der Autarch die Gewißheit habe, die erlassenen Strafen würden durch solche, die sie mir andernfalls hätten übermitteln müssen, weder gemildert noch verstärkt; gleichfalls oblag mir in allen Einzelheiten die Leitung der Vincula, worin die Gefangenen einsaßen. Meine Verantwortung entsprach auf einer geringeren Stufe der des Meister Gurloes in unserer Zitadelle, und in meinen ersten Wochen zu Thrax lastete sie schwer auf mir.
    Es war ein Grundsatz von Meister Gurloes, daß kein Gefängnis ideal gelegen sei. Wie die meisten der klugen Lebensregeln zur Erbauung der Jugend, war sie unwiderlegbar und nutzlos. Alle Ausbrüche fallen unter drei Kategorien – das heißt, sie werden entweder heimlich, durch offene Gewalt oder durch Verrat des Wachpersonals bewerkstelligt. Ein abgelegener Ort hilft sehr, heimliche Ausbrüche zu erschweren, und wird deshalb von den meisten, die sich darüber lange Gedanken machen, bevorzugt.
    Unglücklicherweise bieten Wüsten, Berggipfel und einsame Inseln ein höchst fruchtbares Betätigungsfeld für gewaltsame Ausbrüche – werden sie von den Freunden der Gefangenen belagert, ist es schwer, das in Erfahrung zu bringen, ehe es zu spät ist, und beinahe unmöglich, die Besatzung zu verstärken; und wenn die Gefangenen sich erheben, ist es gleichfalls höchst unwahrscheinlich, daß man rasch Truppen zusammenziehen kann, bevor die Sache entschieden ist.
    Eine Anstalt in einer dichtbesiedelten und wehrhaften Region schaltet diese ungünstigen Umstände aus, bedingt aber noch größere Nachteile. An einem solchen Ort braucht ein Gefangener nicht tausend Freunde, sondern einen oder zwei; und diese müssen keine Krieger sein – es genügt schon eine Putzfrau oder ein Straßenhändler, wenn sie schlau und entschlossen vorgehen. Des weiteren taucht der Gefangene, ist ihm die Flucht erst gelungen, sofort in der anonymen Masse unter, so daß seine Wiederergreifung keine Sache für Jäger und Hunde, sondern für Spitzel und Informanten ist.
    In unserem Fall wäre ein abgelegenes Gefängnis in einer unwegsamen Gegend nicht in Frage gekommen. Selbst wenn es zusätzlich zu den Wächtern mit einer genügend starken Truppe ausgestattet gewesen wäre, um sich der umherstreifenden Autochthonen, Zoanthropen und Cultellarii (von den stets unberechenbaren kleinen Beglückten ganz zu schweigen) zu erwehren, wäre die Versorgung ohne ein stehendes Heer als Geleit für die Nachschublieferungen unmöglich gewesen. Die Vincula von Thrax befinden sich deshalb notgedrungen innerhalb der Stadt – genauer gesagt etwa auf halber Höhe der Steilhänge am Westufer und ungefähr eine halbe Meile vom Capulus entfernt.
    Es ist ein uraltes Gebäude, das meiner Meinung nach von Anfang an als Gefängnis gedacht gewesen ist, obwohl die Sage geht, es sei einmal eine Grabesstätte gewesen und erst vor ein paar Jahrhunderten erweitert und für seine neue Bestimmung umgestaltet worden. Einem Beobachter auf dem geräumigeren Ostufer erscheint es als ein aus dem Fels ragender, rechteckiger Turm mit vier Stockwerken an der Seite, die er sieht, und einem flachen, zinnenbewehrten Dach, das am Steilhang endet. Dieser sichtbare Teil des Bauwerks – den bestimmt viele Besucher der Stadt für das ganze
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