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Das Schwert des Liktors

Das Schwert des Liktors

Titel: Das Schwert des Liktors
Autoren: Gene Wolfe
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den Donjon besteigen, wie ich einst unseren Matachin-Turm erklommen hatte, bevor ich von Meister Palaemon Abschied nahm.
    Als ich diesen erklommen hatte, um dem einzigen Ort, der mir vertraut war, Lebewohl zu sagen, stand ich auf einem der höchsten Punkte der Zitadelle, welche wiederum von einem der höchsten Hügel in der ganzen Gegend um Nessus aufragte. Die ganze Stadt lag bis zum Rande meines Blickfelds vor mir ausgebreitet, und durch sie bahnte sich wie der grüne Schleim einer Wegschnecke auf einer Landkarte der Fluß Gyoll; sogar die Mauer war an einigen Stellen des Horizonts sichtbar, und kein Schatten einer recht viel höheren Warte fiel auf mich.
    Hier war der Eindruck ganz anders. Ich stand über dem Acis, der über eine Treppe von Felsstufen, die jeweils doppelt oder dreifach so hoch wie ein mächtiger Baum lagen, auf mich zu stürzte. Zu weißem Schaum geschlagen, der im Sonnenschein glitzerte, verschwand er unter mir und kam wieder zum Vorschein als silbernes Band, das sich reißend durch die Stadt wälzte, welche sich so fein in das enge Tal schmiegte wie eines jener Spielzeugdörfer in einem Kasten, wie ich (oder vielmehr Thecla) es einmal zum Geburtstag erhalten hatte.
    Dennoch stand ich eigentlich auf dem Boden einer Schale. Auf jeder Seite stiegen die Felswände empor, und wenn ich sie betrachtete, glaubte ich zumindest für einen Augenblick, die Schwerkraft sei durch das Malnehmen eines Zauberers mit Phantasiezahlen verdreht worden, bis sie im rechten Winkel zur eigentlichen Richtung stünde, und die Höhe, die ich sah, sei in Wirklichkeit die ebene Oberfläche der Welt.
    Eine Wache oder länger bestaunte ich wohl diese Felswände, verfolgte die spinnwebartigen Wasserfälle, die mit Getöse wildromantisch herniederstürzten, um sich mit dem Acis zu vereinen, und beobachtete die eingeschlossenen Wolken, die sich, wie mir schien, sanft gegen den unnachgiebigen Fels drängten wie aufgeschreckte Schafe gegen den gemauerten Pferch.
    Schließlich wurde ich die Herrlichkeit der Bergwelt und meine Gebirgsträume müde – das heißt, nicht müde, sondern berauscht davon, bis sich um mich herum alles schwindelerregend schnell drehte und ich diese unbarmherzigen Höhen offenbar selbst mit geschlossenen Augen sah und in meinen Träumen in dieser Nacht und vielen kommenden Nächten fühlte, von ihren Gipfeln zu stürzen oder mich mit blutigen Fingern hoffnungslos an ihre Felsen zu klammern.
    Nun kehrte ich mich allen Ernstes der Stadt zu und lenkte meinen Blick, um zur Ruhe zu kommen, auf den Turm der Vincula, einem nun sehr bescheidenen Würfelchen, das an einem Steilhang haftete, der kaum mehr als eine kleine Welle im unermeßlichen Felsenmeer ringsum darstellte. Ich folgte dem Verlauf der Hauptstraßen und versuchte (fast spielerisch, um nach dem langen Ausschauhalten wieder zu Sinnen zu kommen), jene zu bestimmen, die ich auf dem Weg zur Burg durchschritten hatte, und aus dieser neuen Perspektive die Häuser und Marktplätze zu betrachten, die ich dabei passiert hatte. Ich erspähte die Basare, wovon es zwei gab, nämlich auf jeder Flußseite einen, und entdeckte von neuem die markanten Punkte, die mir von der Fensterlaibung der Vincula aus vertraut geworden waren – die Arena, das Pantheon und den Palast des Archons. Als ich alles, was ich von unten aus gesehen hatte, wiedererkannte von meinem neuen Aussichtspunkt und bestätigt fand, was ich anhand des Stadtplans über die Lage der Burg, auf der ich stand, bereits gewußt hatte, begann ich, die kleineren Straßen zu erforschen, indem ich den verschlungenen Steigen folgte, welche die oberen Hänge überzogen, und in schmale Gassen spähte, die oft nicht mehr als ein schwarzer Strich zwischen den Häusern schienen.
    Schließlich fiel mein suchender Blick wieder auf die Flußufer, und ich studierte Stück für Stück die dortigen Anlegestellen, die Lagerhäuser und sogar die pyramidenartig aufgeschichteten Fässer, Kisten und Ballen, die auf die Verschiffung warteten. Das Wasser war nicht mehr schaumig, außer wo die Piere seinen Lauf hemmten. Seine Farbe war fast indigoblau, und wie die indigoblauen Schatten, die man abends an einem verschneiten Tag sieht, schien es still, geschmeidig und frostig voranzuhuschen; aber der Zug der dahineilenden Kaiks und schwer beladenen Feluken verriet, was für eine Turbulenz unter der glatten Oberfläche verborgen lag, denn die größeren Schiffe schwangen ihre langen Bugspriete wie Fechter, und allesamt gierten sie
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