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Das Schwert des Liktors

Das Schwert des Liktors

Titel: Das Schwert des Liktors
Autoren: Gene Wolfe
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worden war), stellten wir ebenbürtige Gefährten dar; ein jeder ging die zurückgelegten Meilen auf eigenen Füßen oder ritt auf dem eigenen Tier. Hatte ich ihr leiblichen Schutz geboten, so hatte sie mir irgendwo moralische Unterstützung gewährt, denn nur wenige konnten auf Dauer vorgeben, ihre unschuldige Schönheit zu verachten, oder ob meines Amtes Entsetzen empfinden, wenn sie, mich beäugend, unweigerlich auch sie betrachten mußten. Sie war mir in Schwierigkeiten Berater und an hundert einsamen Orten Kamerad gewesen.
    Als wir schließlich nach Thrax gelangten und ich dem Archon Meister Palaemons Brief vorlegte, wurde all dem notgedrungen ein Ende gesetzt. In meiner rußschwarzen Tracht hatte ich die Menge nicht mehr zu fürchten, denn nun fürchtete sie mich als den höchsten Vollstrecker des verhaßten Arms des Gesetzes. Dorcas lebte nun – nicht als Ebenbürtige, sondern als Buhlin, wie die Sibylle sie einst genannt hatte, in der Wohnung, die mir in den Vincula bereitgestellt worden war. Ihr Rat wurde überflüssig oder fast überflüssig, denn die Schwierigkeiten, die mir zu schaffen machten, waren rechtlicher oder verwaltungsmäßiger Art, auf die ich jahrelang vorbereitet worden war und wovon sie nichts verstand; außerdem hatte ich selten die Zeit oder Kraft, sie ihr zu erläutern, auf daß wir sie besprechen könnten.
    Während ich also Wache um Wache im Gericht des Archons stand, machte sie es sich zur Gewohnheit, durch die Stadt zu streifen, und wir, die wir den ganzen letzten Teil des Frühlings zusammen gewesen waren, sahen uns jetzt im Sommer kaum mehr, bis auf das gemeinsame Nachtessen, woraufhin wir erschöpft aufs Bett sanken, wo wir selten mehr taten, als in den Armen des anderen in Schlaf zu fallen.
    Schließlich schien der Vollmond vom Himmel. Mit welcher Freude betrachtete ich ihn vom Dach des Turmes aus, grün wie Smaragd unter seinem dichten Waldmantel und rund wie der Rand einer Tasse! Ich war noch nicht frei, denn die einzelnen Folterungen und Verwaltungsarbeiten, die sich seit meinem Dienstantritt angehäuft hatten, harrten der Erledigung; immerhin war ich aber nun frei, mich ihnen mit ganzer Aufmerksamkeit zu widmen, was mir so famos wie die Freiheit selbst vorkam. Ich hatte Dorcas eingeladen, mich am nächsten Tag bei meinem Inspektionsgang durch die unterirdischen Teile der Vincula zu begleiten.
    Das war ein Fehler. Ihr wurde inmitten des Elends der Gefangenen übel in der stickigen Luft. An jenem Abend erzählte sie mir, wie berichtet, daß sie ein öffentliches Bad (wie ungewöhnlich für sie, die sich Stück für Stück mit einem Schwamm, den sie in eine tellertiefe Schale tauchte, zu waschen pflegte) aufgesucht habe, um Haar und Haut vom Gestank des Stollens zu befreien, und daß die Badegäste über sie geredet hätten.
     

 
Auf dem Katarakt
     
    Am nächsten Morgen schnitt sich Dorcas, ehe sie den Turm verließ, das Haar, bis sie fast wie ein Knabe aussah, und steckte eine weiße Pfingstrose durch den Reif, der es zusammenhielt. Ich saß bis zum späten Nachmittag über verschiedenen Schriftstücken, borgte mir dann einen zivilen Burnus vom Sergeanten meiner Wärter und begab mich mit der Hoffnung, ihr zu begegnen, in die Stadt.
    Im braunen Buch, das ich bei mir trage, wird gesagt, nichts sei so sonderbar wie die Erkundung einer Stadt, die sich von allen bekannten völlig unterscheidet, denn dabei erkunde man ein zweites, ungeahntes Selbst. Noch sonderbarer dünkt mich die Erkundung einer solchen Stadt, wenn man eine Weile in ihr gelebt hat, ohne etwas von ihr zu sehen.
    Ich wußte nicht, wo sich die Badeanstalt, die Dorcas erwähnt hatte, befand, obschon ich anhand von Gesprächen, die ich im Gerichtshof gehört hatte, vermutete, daß es eine solche Einrichtung gab. Ich wußte nicht, wo der Basar lag, in dem sie ihre Kleider und Schönheitsmittel gekauft hatte, oder ob es mehr als einen gab. Ich kannte, kurz gesagt, nur das, was ich von den Zinnen und auf dem kurzen Weg von den Vincula zum Palast des Archons sehen konnte. Ich war vielleicht allzu zuversichtlich, mich in einer so viel kleineren Stadt als Nessus zurechtfinden zu können; dennoch versäumte ich es vorsichtshalber nicht, mich hin und wieder bei meinem Gang durch die krummen Gassen, die sich zwischen den höhlenartig in den Fels getriebenen und schwalbennestartig aufgesetzten Behausungen über den Abhang schlängelten, zu vergewissern, daß ich den vertrauten Turm mit seinem verbarrikadierten Tor und
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