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Das Schützenhaus

Das Schützenhaus

Titel: Das Schützenhaus
Autoren: Georg Lentz
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Sternchen Aufträge. Bei solchen Anlässen rückte Sternchen den Schirm seiner Mütze nach vorne, er nahm sie aber nicht ab, obwohl Tante Deli ihn des öfteren dazu aufforderte: »Nehmen Sie doch Ihren Deckel ab, wenn Sie bei uns im Zimmer sitzen.«
    Sternchen grinste, behielt aber die Mütze auf. Wenn er davonfuhr, drehte er den Schirm wieder nach hinten.
    Manchmal verließ mein Vater das Haus, es hieß dann, er sei zum Schützenhaus hinübergegangen. Er forderte uns jedoch nie auf, ihn zu begleiten, nur Zeppelin nahm er mit. Kam er von einem dieser geheimnisvollen Gänge zurück, saßen wir Kinder um den Eßzimmertisch, auf dem er seine Papiere ausbreitete. Dieser Tisch war der zentrale Versammlungspunkt, hier wälzte Tante Deli ihre Wirtschaftsbücher, gewichtige Kladden in schwarzen Kaliko-Einbänden. Auf der grünen Tischdecke lagen auch unsere Schulbücher.
    Wir machten Schularbeiten. Oder jedenfalls gaben wir vor, sie zu machen. Joachim und mich langweilten Hausaufgaben, das Wichtigste erledigten wir während der Pausen in der Schule, genierten uns nicht, abzuschreiben in Fächern, in denen wir schwach waren. Anneli hingegen, mit der Ordentlichkeit einer Katze, die ihr Fell durch Lecken reinhält, malte ihre Buchstaben und Zahlen. Wir halfen ihr, weil wir unseres eigenen Pensums überdrüssig waren. Bereits zu Beginn eines jeden Schuljahrs,wenn wir die neuen Bücher vom Buchhändler Holzapfel erworben hatten, lasen wir sie durch, von vorne bis hinten, mit rasanter Geschwindigkeit. Der Unterricht konnte uns dann, meinten wir, nichts Neues mehr bieten, von ein paar Überraschungen abgesehen. Die passierten eigentlich nur, wenn ein Lehrer unversehens vom Lehrplan abwich. Dann hielt er sich aber meistens nicht mehr lange in der Schule und verschwand.
    Wir saßen am Tisch in diesem zentralen Raum unserer Wohnung, weil wir hier alles erfuhren. Hier war der Mittelpunkt unseres häuslichen Lebens. Mein Vater, von seinen Gängen zurück, umrundete uns, wir sahen zu ihm auf. »Ach, ihr!« sagte er. – Er sagte es mit einer Zärtlichkeit, die bei diesem verschlossenen Mann erstaunte. Wir bedurften dieser Worte, und wir liebten ihn dafür. Manchmal fuhr er uns mit der Hand hinten in den Kragen und zwickte uns in den Nacken, als wolle er seine Kinder wie eine Katzenmutter davontragen, an ein sicheres Plätzchen. Heute bin ich überzeugt, daß dies nicht unbewußt geschah. Da wir mutterlos aufwuchsen, wollte er uns wohl fühlen lassen, daß er in unserer Nähe war, daß es ihn gab, auch körperlich. Dazu gehörten: zwei Holunder-Pistolen, die er uns bastelte, ein Drachen und ein paarmal Prügel mit seinem Leibriemen, den er umständlich abschnallte, bevor er ihn auf unsere Hintern niedersausen ließ.
    Heute frage ich mich: Hat das ausgereicht? Aber wir liebten ihn. Väter waren so, damals, in der guten alten Zeit, die keine gute mehr war, wie sich bald herausstellte.
    »Das Geld wird gleich nichts mehr wert sein«, prophezeite er, wenn er seine Pläne mit Tante Deli besprach. Wir hatten dann an dem grünen Tisch, wie wir das Möbel der Decke wegen nannten, nichts zu suchen. Joachim ging in seinen Laborkeller, Anneli spielte in ihrem Zimmer mit Puppen, ich jedoch, wißbegierig, drückte mich in der Nähe herum, schnappte auf.
    »Wichtig ist die Flucht in die Münze«, sagte mein Vater. »Das können sie so schnell nicht umstellen.« Er hortete in einer Schublade der Schlafzimmerkommode Rollen mit Zweimarkstücken, »für den Notfall«.
    Für welchen Notfall? Das Wort Inflation fiel noch nicht. Oder fiel es und bedeutete mir nichts?
    Joachim nahm im Labor seine Apparate auseinander. Er wollte einen Projektor bauen, dazu brauchte er die Objektive seines Vergrößerungsapparates. »Das Schwierige ist dieses Malteserkreuz«, erklärte er mir. »Das Malteserkreuz dient der Zerlegung in Einzelbilder.«
    In der Großgörschenstraße, in der Nähe unseres Mietshauses, existierte ein Laden mit technischem Krimskrams, eine mit Trümmern angefüllte Höhle, die von einem öligen Mann in grauem Kittel verwaltet wurde, der Herr Meier hieß. Herr Meier trug stets einen Hut, der, nicht weniger speckig als der Kittel, auf seinem Kopf glänzte. Wie unser Vater kaute er auf einem Zigarrenstummel.
    Joachim hatte sich mit Herrn Meier angefreundet. Einige Male fuhren wir in die Stadt. Zwar wußte Herr Meier nichts von Projektoren und ihrer Konstruktion, aber er half Joachim bereitwillig beim Suchen und machte ihm Preise, die unseren
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