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Das Schützenhaus

Das Schützenhaus

Titel: Das Schützenhaus
Autoren: Georg Lentz
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Spielbein, dann fuhr sie fort: »Wenn du denkst, du hast eine billige Arbeitskraft an mir, so hast du dich in den Finger geschnitten. Ich bin zu dir gekommen nach dem Tod von Lucie, deiner Frau, meiner Schwester immerhin. Weshalb ist Lucie krank geworden und gestorben? Nein, nein, ich will dich nicht beschuldigen. Lucie war immer schwach. Dabei fällt mir ein, ich muß Mohrrüben kaufen, die Jungs sind blasser als meine Anneli. Großstadtluft. Ich glaube, sie sind rachitisch. Englische Krankheit. Das ist möglich, oder? Die Großstadtluft. Wir sollen hier eine richtige Dunstglocke haben, die Sonne kommt nicht durch. In der ›Morgenpost‹ stand ein langer Artikel. Sag mal, du bist wirklich entschlossen, willst das Schützenhaus übernehmen?«
    Mein Vater nickte. Die Zigarre wippte auf und nieder wie ein Schlagbaum. Im Licht, das durch die hohen Fenster fiel, leuchteten seine blauen Augen. »Wer rastet, der rostet«, sagte Vater. »Als Nachkomme von Millionenbauer Pommrehnke das Erbe verprassen, das liegt mir nicht.«
    Eine Rede solcher Länge hatte ich selten aus Vaters Mund vernommen, außer, er berichtete über seine Erlebnisse als Leibgarde-Husar. Daß er sich hinter einem Sprichwort verschanzte, bewies mir, daß er ernst machen würde. Vergleichsmöglichkeiten standen mir offen. Bevor Vater mir oder Joachim eine runterhaute, sagte er jedesmal: »Unverhofft kommt oft.«
    Nun das Schützenhaus. Bedeutete das Umzug? Wir lebten behaglich hier, das Haus in der Königstraße gehörte uns, einpaar andere die Straße hinauf ebenfalls und eine Mietskaserne in der Großgörschenstraße. Großvater Pommrehnke, der »Millionenbauer«, hatte sein Geld gut angelegt, als er den Hof an Bauspekulanten verkaufte. Die Stadt dehnte sich aus, die Bauern trennten sich von ihren Äckern. Meistens lebten sie danach flott, in wenigen Jahren schmolz das Geld dahin.
    Anders mein Großvater, er legte an. Kaufte Mietshäuser aus Pleiten, manchen Bauherren war das Geld ausgegangen. Er hatte auch mit dem Verkauf seines Hofes gewartet, bis rings umher die Rohbauten der Häuser aufschossen, die Spekulanten die Lücken dazwischen ärgerten und sie schließlich eine, wie Großvater sagte, schwindelnde Summe boten.
    Diese Einzelheiten waren mir vertraut, oft wurde darüber geredet, mindestens kamen sie wiederholt in Tante Delis Monologen vor. Und auch Großvater und Großmutter, die wir in den Sommerferien regelmäßig besuchten, sprachen gern über jene Tage des – heute würde man sagen – Baubooms.
    Natürlich war mir, genau wie Joachim und Anneli, dies alles bekannt, aber es hatte keine Bedeutung für mich, blieb ohne Zusammenhang, entzog sich meiner Beurteilungsmöglichkeit. An jenem Tag jedoch spürte ich, daß unser Leben sich verändern würde, daß diese Veränderung etwas mit dem Willen meines Vaters zu tun hatte und nicht mit »den Umständen«. Mein Vater sagte zuweilen, den Umständen entsprechend gehe es uns gut.
    Ich schlich zu meinem Bruder Joachim hinunter. Ausnahmsweise ließ er mich gleich ein, als ich an die Tür seiner Dunkelkammer klopfte. Rotes Licht beleuchtete seine Hände. Im Fixierbad schwamm die Vergrößerung eines Fotos: der Kopf einer Libelle. Joachim hatte sie im Sommer fotografiert, als wir bei den Großeltern in Lindow waren, mit einer selbstgebastelten Vorsatzlinse. »Schau dir die Augen an«, sagte Joachim. »Der Mist ist, daß man so eine Fotografie nur wenigen zeigen, sie allenfalls drucken kann. In der ›Berliner Illustrierten‹. Aber ob die auf meine Fotos warten? Man muß Filme drehen. Man muß das filmen, verstehst du? Und in einem Saal zeigen. Tausendenmuß man das zeigen.« Er kniff mich in den Arm, die andere Hand bewegte mittels einer Wäscheklammer das Foto im Fixierbad. Joachim hatte die Klammer der Länge nach gespalten. Mit darübergezogenen Gummiringen bewegte er sie wie chinesische Eßstäbchen.
    Mich interessierte sein Steckenpferd nicht. »Stell dir vor«, flüsterte ich überflüssigerweise, »Vater will das alte Schützenhaus kaufen und Gastwirt werden. Tante Deli hat Schiß, daß sie die Arbeit machen muß.«
    Joachim sah mich durch seine Brille an, er trug eine Korrekturbrille wegen seiner Schielerei. Man wußte trotz der Brille nicht genau, wohin er blickte, aber da er mir das Gesicht zuwandte, rot beschienen und wie aus Wachs, nahm ich an, daß er mich im Fokus hatte. »Ist doch Klasse«, sagte mein Bruder. Er nahm das Bild der Libelle aus dem Fixierer und warf es ins Wasserbad.
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