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Das Schützenhaus

Das Schützenhaus

Titel: Das Schützenhaus
Autoren: Georg Lentz
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erst später, bei einem weiteren Besuch. Ich will nicht ausschließen, daß wir auch sie besichtigten, damals, am ersten Tag. Aber die Faszination meines Bruders hatte mich angesteckt, die Filmrollen brannten mir unter dem Hemdstoff. Nur daran erinnere ich mich noch, daß Sternchen sich wieder auf sein Rad schwang und mit einem »Ist jeritzt« in die Pedale trat. Mein Vater gab einen merkwürdigen Spruch von sich, er sagte: »Goldschnitt vergeht – Schweinsleder besteht.«
    Wir rannten den Weg zurück, waren längst vor den anderen zu Hause. In Joachims Dunkelkammer wickelten wir die Spulen auf, hielten Film um Film gegen das Licht. Tieraufnahmen waren auf dem ersten, »enttäuschend«, flüsterte Joachim. Es schien sich um Filmaufnahmen aus dem Zoo zu handeln. Eine Schar Pinguine, meterweise Film nichts als Pinguine. Dann Seerobben. Ein Eisbär.
    Auch die nächsten Spulen enthielten Tieraufnahmen, eine fing mit Giraffen an, die andere zeigte das Elefantenhaus von außen, es war tatsächlich unser Zoo in der Budapester Straße, den wir von einigen Besuchen kannten. Jedes Berliner Kind wurde sonntags in den Zoo geschleppt, ich dachte lange, daß es andere Tiere als eingesperrte gar nicht gäbe. Schilderungen von Tieren in freier Wildbahn, die ich irgendwo las, nahm ich nicht zur Kenntnis, oder jedenfalls drangen sie nicht in die Tiefe meines Bewußtseins, so, als ob sie sich auf einem anderen Stern befänden. Nur die Zootiere hielt ich für »die Wirklichkeit«.
    Die Filme waren stark beschädigt. Feuchtigkeit hatte Teile der Emulsion abgelöst, andere Partien, die wir entrollten, waren zerkratzt, und manchmal war der Film an der Perforierung zerrissen. Erst zum Schluß wurden wir belohnt. Die letzte Spule, am besten von allen erhalten, zeigte Charlie Chaplin. In Charlies Begleitung befand sich ein kleiner weißer Hund. »Den Film kenne ich«, sagte Joachim. »Ich habe ihn gesehen. Der heißt ›Hundeleben‹. Charlie ist ein Arbeitsloser, er und der Hund verhungern beinahe.«
    Joachim ging oft in die Kindervorstellungen im Heli-Kino, ich nur manchmal. Ich machte mir nicht viel aus Kintopp, Joachim war von den Filmen fasziniert. Es gelang ihm fast immer, sich das Eintrittsgeld zusammenzuschnorren.
    Wir wickelten die Spulen wieder auf.
    »Was machen wir?« fragte ich.
    »Wir bauen so einen Apparat. Zum Vorführen«, sagte Joachim.
    Nichts schien sich in unserer Familie nach der Besichtigung des Schützenhauses geändert zu haben. Nur aus Gesprächen, die wir hin und wieder belauschten, ging hervor, daß der Plan, das Schützenhaus zu übernehmen, Gestalt annahm. Einmal sagte mein Vater zu Tante Deli: »Das Geld wird nicht bleiben. Besser, wir stecken es …« Er vollendete den Satz nicht, aber mir war klar, daß er sagen wollte, »ins Schützenhaus«.
    »Es geht uns doch gut«, sagte Tante Deli. »Warum willst du was riskièren? Sieh dich um, fast keiner hat mehr einen Pfennig nach dem Krieg. Und wenn die Versailler Verträge kommen …«
    Ich wußte nicht, was die Versailler Verträge waren, in der Schule vermied man, uns über die Probleme der Gegenwart zu informieren. Wir nahmen gerade Sedan durch, ein Anlaß, der den Lehrer zu der Behauptung hinriß, 1918 seien unsere Truppen im Felde unbesiegt zurückgekehrt. »Im Felde unbesiegt«, schrie unser Geschichtslehrer, das Kyffhäuser-Abzeichen auf dem Revers seines Anzuges blitzte. Er trug immer denselben Anzug, damals war das üblich. Ich habe seinen Namen vergessen,nur der Spitzname ist mir in Erinnerung geblieben, Bullus, wir nannten ihn Bullus wegen seiner gedrungenen Gestalt.
    Bullus verriet uns nicht, wie das Leben weitergehen würde in diesem Land, das mein Vater als besiegt bezeichnete trotz der unbesiegt heimgekehrten Armee. Wir lebten auf einer Insel, Millionenbauer-Erben, mit armen Verwandten gesegnet, die von Zeit zu Zeit aus der Stadt hierher in den Vorort kamen und sich über meinen Vater mokierten, der im Bett liegenblieb, während sie an unserem Eßtisch Schmorbraten in sich hineinstopften.

2
    Mein Vater legte sich wieder ins Bett. Er raschelte mit den Zeitungen, sein Kopf mit den militärisch kurzgeschnittenen Haaren ragte aus den Kissen. Wer etwas von ihm wollte, blieb im Türrahmen stehen, bis der Blick aus blauen Augen ihn traf.
    Sternchen Siegel fuhr fast jeden Tag auf seinem Rennrad vor. Damit begann eine Epoche, in der mein Vater sich überraschend oft von seiner Lagerstatt erhob. Am Eßtisch sitzend, blätterte er in Papieren und erteilte
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