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Das schönste Wort der Welt

Das schönste Wort der Welt

Titel: Das schönste Wort der Welt
Autoren: M Mazzantini
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ersten Bilder
ziehen vorbei, ohne dass ich sie wirklich aufnehme, kurze, flüchtige Blicke, Fetzen
wie versengte Briefmarken.
    Es genügt, wenn ich
so schaue, durchgleite, ohne etwas von dem zu registrieren, was ich sehe. Ich
habe gelernt, dass alles vergehen kann, selbst das Grauen kann seine Gestalt
verlieren, sich in einem Nebel auflösen, der es verzerrt und lächerlich macht,
zu absurd, um je wahr gewesen zu sein, die schwarzen Autowracks, die
zersprungenen Fensterscheiben, das lebende Herz, das aus der Brust eines Kindes
gegen eine weiße Wand spritzt.
    Ich greife nach meinem
Ohrring, schiebe ihn im Ohrläppchen auf und ab.
    Ich bin ruhig.
Pietros Körper hilft mir, sein Knie in den Jeans, das meines berührt, seine
Lässigkeit, sein Blick, der alles ignoriert, einfach nur genervt von so viel
Stadtwehmut.
    Die alten, grauen Wohnblocks
des sozialistischen Realismus stehen noch, Balkons wie abgeschabte Karteikästen
in einer Behörde. Die Granateinschläge mit Putz geflickt.
    Ein Schlagloch
genügt, und ich muss den Impuls unterdrücken, mich zu ducken. Spüre das Holpern
jener wilden Fahrten wieder. Mit zweihundert Sachen raste man durch die Scharfschützen-Allee,
den Kopf auf den Knien, der Atem, der zwischen den Beinen hindurchtropfte. Die
roten Gehäuse der reglosen Straßenbahnen, zusammengeschoben als Schutz vor der
Feuerlinie. Ich schaue zu Pietro. Er hat keine kugelsichere Weste an , fährt es mir durch den Kopf. Ich
sauge meine Wangen zwischen die Zahnreihen. Ruhig Blut .
    Gojko schweigt. Er
hat sich nur einmal umgedreht und lässt mich seitdem in Ruhe.
    Ich sehe ihn am
Leben, in Sicherheit unterwegs auf dieser Straße. Ein Mann von heute in der
sich weiterdrehenden Welt, Haare, die geschlafen haben und aufgewacht sind.
    Die Ampeln kommen mir
seltsam vor, dieses geordnete Anhalten. Die Leute, die seelenruhig über die
Straße gehen. Weiter oben die Hügel, ansteigende Gärten, weiße Häuschen,
friedvoll zwischen den dunklen Tannenwäldern. Von dort haben sie geschossen,
jede freie Stelle zwischen den Häusern, jeder grüne Spritzer, jedes Aufblitzen
war ein Scharfschütze, der dich treffen konnte.
    Die Redaktion der
legendären Oslobodjenje wurde auf ihren Trümmern
wiedererrichtet, eingezwängt in ein flaches, geordnetes Gebäude. Nebenan steht
ein riesiger Wolkenkratzer mit Spiegelglasfenstern, die ungerührt auf die
Ruinen des alten städtischen Hospizes schauen. Darauf steht in großen
Leuchtbuchstaben: AVAZ .
    »Das ist die
meistgelesene Zeitung, ihr Eigentümer hat sich eine goldene Nase verdient.«
    Gojko streicht sich
über den Schädel.
    »Dabei hat sie nicht
mal einen Feuilletonteil.«
    An einem Beet mit
aufgelockerter Erde wartet ein Mann, bis sein Hund mit seinem Geschäft fertig
ist. Ein junges Mädchen auf einem Fahrrad zerschneidet quer die Allee. Von
einem Werbeplakat der Sarajevo Osiguranje lacht eine Familie mit blonden Kindern. Auch die zwei Militärs auf
dem Plakat der EUFOR lachen, ein Mann und eine Frau, beide
feist, mit verschränkten Armen in ihren Tarnanzügen. Auf beiden Seiten der
Allee sind Leute unterwegs. Fleisch, das in den Bahnen seiner geordneten
Alltäglichkeit läuft.
    Mit den Menschen
überqueren Vögel die Straße, sie fliegen über den Köpfen von Baum zu Baum und
landen auf dem Boden, um Futter aufzupicken.
    Einmal war ich
morgens aufgewacht und sah den großen schwarzen Strahl. Alle Vögel flogen
davon, verschreckt durch den ständigen Donner, durch den Qualm der Brände,
durch den unerträglichen Geruch unzulänglich verscharrter Leichen. Sie flogen
die Miljacka flussaufwärts, um in den entlegensten Wäldern Zuflucht zu suchen,
dort, wohin man im Sommer zum Picknick fuhr und wo man an kleinen Wasserfällen,
die wie Silberknoten glitzerten, Kühlung suchte. Alle Einwohner Sarajevos
beneideten diese Vögel, die vom Boden abheben und unbehelligt wegfliegen
konnten.
    Ich drehe mich um.
Und da ist es. Die gelbe Ohrfeige des Holiday Inn . Ein regloser Würfel, zusammengesetzt
aus Würfeln, die aussehen, als könnten sie sich verschieben. Während der
gesamten Belagerung war es die Zuflucht der ausländischen Presse. Die Fassade
war den Schützen von Grbavica ausgesetzt, man kam nur von hinten ins Hotel,
indem man mit dem Auto zur Garagenauffahrt glitt. Trotzdem war es so etwas wie
ein Paradies, unerreichbar für diejenigen, die währenddessen starben, es gab
dort warmes Essen und Satellitentelefone. Es gab dort Reporter, die ihre
Berichte vom Zimmer aus verfassten,
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