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Das Schloß der blauen Vögel

Das Schloß der blauen Vögel

Titel: Das Schloß der blauen Vögel
Autoren: Heinz G. Konsalik
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einem neuen Volldüngemittel geht schief, alle Pflanzen verbrennen, sobald Wasser dazukommt … also lauter Nadelstiche, die sich dann in Kopfschmerzen manifestieren. Alltagssorgen, lieber Doktor, weiter nichts.«
    Dr. Hannsmann nickte. Im Geiste ging er die cytoarchitektonischen Rindenfelder des Gehirns in der üblichen Numerierung nach Brodmanns Lokalisationslehre der Großhirnrinde durch. Irgendwo im Bereich von Nr. 37 und Nr. 19 mußte eine Störung sitzen. Eine bisher unbemerkte Hirnblutung, ein Tumor, eine Flüssigkeitsansammlung? Vielleicht war auch alles harmlos … man dachte immer gleich an die großen, kaum reparablen Dinge! Überarbeitung konnte es sein, eine rein nervliche Sache vegetativer Natur … Aber dann sah Dr. Hannsmann seinen Patienten an, kraftstrotzend und gesund, er dachte an den Schuh nebenan bei Fräulein Sesselhain auf dem Stuhl, und er zog an seiner Zigarre, sah dem dicken Rauch nach und wünschte sich inständig, daß die Diagnose eine harmlose Krankheit aufdeckte.
    »Sie brauchen Ruhe«, sagte Dr. Hannsmann endlich. Sassner brach in lautes Lachen aus.
    »Doktor!« rief er und wedelte mit beiden Händen durch die Luft. »Nun fangen Sie auch noch an, das Stammlied aller Ärzte zu singen: Ruhe! Entspannung! Keine Sorgen! Tralalalala! – Sagen Sie mal, wozu studiert man eigentlich sechs Jahre Medizin, um dann solche Weisheiten auszuteilen? Ich tanke jeden Sonntag Kraft, Ozon, Waldluft, Wiesentau und Blütenduft! Was wollen Sie mehr?«
    »Sechs Wochen Sanatorium.«
    »Ich? Wollen Sie, daß die dortigen Ärzte Minderwertigkeitskomplexe bekommen?«
    »Ihre Stärke ist nur eine Fassade, Herr Sassner. Ihr Körper ist wie ein Baum, der in vollem Blattwerk steht … aber innen nagt der Wurm.«
    »Doktor, wieviel Semester haben Sie heimlich Theologie studiert?« Sassner beugte sich vor und schien sich köstlich über Dr. Hannsmanns ernste Miene zu amüsieren. »Ich fahre im Sommer für vier Wochen nach Capri. Zufrieden? Im übrigen übertreiben Sie wie alle Ärzte. Ich und krank? Was soll denn mein alter Freund Benno Berneck von mir denken …«
    Das verhängnisvolle Wort war gefallen … nun stand es im Raum, kalt und grau, nach Moder riechend, so kam es Dr. Hannsmann vor. Hier gab es nun kein Ausweichen mehr, kein freundliches Überhören, keine Selbsttäuschung. In der kraftstrotzenden Hülle Sassners lebte seit gestern ein armer, verwirrter Geist. Und man konnte es ihm nicht sagen, nicht erklären – er würde es nie verstehen, weil dieses kleine Stück seines Hirns, diese paar irgendwo in einer etwa 1.300 Gramm schweren Gehirnmasse verborgenen Zellen durch irgend etwas gestört, geschädigt waren.
    Dr. Hannsmann sah keine Möglichkeit, mit Sassner darüber zu reden. Er sah nur eine Möglichkeit: Sassner mußte sofort nach Hause gebracht werden. Dann wollte man weiter sehen. Man konnte Professor Seitz rufen, ein Enzephalogramm machen, Sassner dazu bewegen, sich in fachärztliche Behandlung zu begeben … O Gott, man konnte so vieles tun und doch im Grunde genommen gar nichts, wenn der alte Schuh, der nebenan auf einem Stuhl lag, zu einer Wahnidee geworden war. Es gab Elektroschocks, Insulinschocks, es gab eine Vielzahl von Psychopharmaka, und es gab als letzten Ausweg die Einweisung in eine Anstalt, wenn aus der Psychose eine Bedrohung der Umwelt, ein Terror wurde.
    Daran zu denken war selbst Dr. Hannsmann schrecklich, obwohl er die ärztliche Notwendigkeit auf sich zukommen sah. Und sie kam mit Riesenschritten.
    Gerd Sassner erhob sich plötzlich abrupt. Es kam so unvermittelt, daß Dr. Hannsmann zusammenfuhr.
    »Doktor, Ihre Sorge ist rührend, aber Sie sehen, ich bin gesund. Wenn ich nur wüßte, wer Sie auf mich gehetzt hat!«
    »Niemand. Mir fiel nur auf, daß Sie nervös sind.« Dr. Hannsmann erhob sich gleichfalls. Er blickte zur Seite, zu der fertiggemachten Spritze, die unter einem Aktendeckel lag, umwickelt mit sterilem Mull. »Und wenn Sie sich auf den Kopf stellen … Blutdruck messe ich doch, Herr Sassner.«
    »Der Ärzte letzte Weisheit – Blutdruck! Bitte.« Fröhlich zog Sassner seine Jacke aus, krempelte die Hemdsärmel hoch und hielt Dr. Hannsmann seinen Arm hin.
    Der Arzt holte seinen Blutdruckmesser aus der Aktentasche, legte die Manschette um, pumpte auf und hielt sich nicht damit auf, auf das Manometer zu sehen. Den Blutdruck des Patienten kannte er auswendig. 140/150 … bei einem Mann wie Sassner völlig normal. Er griff unter den Aktendeckel, zog die Spritze hervor,
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