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Das Schloß der blauen Vögel

Das Schloß der blauen Vögel

Titel: Das Schloß der blauen Vögel
Autoren: Heinz G. Konsalik
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hinter sich hat und sich erinnert. Alles ist so greifbar nahe, wie gestern, wie vor einer Stunde, wie eben gelebt.
    Und jetzt war Dorle in dem gleichen Alter wie damals ihre Mutter Luise. Sie hatte die gleiche schlanke, aber doch proportionierte Figur, das gleiche blonde Haar, den gleichen goldenen Schimmer auf der Haut, hervorgerufen von Tausenden blonder, flaumiger Härchen.
    Dorle reckte sich in der Sonne und winkte Gerd Sassner mit beiden Armen zu.
    »Das Fett ist schon in der Pfanne, Paps!« rief sie. »Wir alle warten, daß du mal einen Walfisch anbringst …«
    Sassner hatte ein paar Schritte vorwärts gemacht. Nun blieb er wieder stehen und senkte langsam den Kopf. Er griff in die große, innen mit Wachstuch ausgeschlagene Anglertasche, schob sie am Brustriemen nach vorn und öffnete die Klappe. Vorsichtig, als bringe er etwas ungeheuer Zerbrechliches hervor, zog er die Hand zurück und hielt einen alten Schuh ins Licht.
    Es war ein Schuh, wie man ihn wegwirft, wenn nichts, aber auch gar nichts mehr zu reparieren ist. Ein halbhoher Schuh ohne Schnürbänder, staubig und an der linken Seite aufgerissen, ohne Absatz, statt dessen nur die rostigen Nagelstümpfe, auf denen der Absatz einmal gesessen hatte. Ein trauriges Wrack. Gott allein wußte, wer ihn weggeworfen hatte und wie er in diese Gegend gekommen war, an den Bachlauf, den Gerd Sassner in seinen hohen Gummistiefeln hinauf und hinab geschritten war, um Forellen zu fangen.
    »Mein Haus«, sagte Gerd Sassner mit völlig normaler Stimme zu dem alten Schuh. »Eigenhändig aufgebaut. Als wir es übernahmen, war's eine elende Hütte. Moos wuchs auf dem eingesunkenen Dach … weißt du, wie damals die Hütten von Nowo Chimkassy, in denen die verdammten Partisanen lagen und uns aufs Korn nahmen. Aber nun ist's ein Paradies, was? ›Haus Frieden‹ haben wir es getauft. Bisher durfte kein Fremder hierher, nicht einmal mein Bruder – du bist der erste! Das ist keine besondere Auszeichnung mein Lieber, das ist selbstverständlich zwischen uns!«
    Er hielt den alten, zerfetzten Schuh etwas höher und machte mit ihm eine halbkreisförmige Bewegung, damit er auch die ganze Umgebung sehen konnte. Vom Haus her antwortete ihm Lachen und Händeklatschen.
    »Er hat einen Schuh geangelt, Ma!« rief Dorle. »Paps hat einen Anglerwitz wahr gemacht!«
    »Wenn das die ganze Beute ist … welch ein Sonntag!« Andreas steckte den Kopf durchs Küchenfenster. »Ma, hol die Koteletts aus dem Kühlschrank … Paps bringt einen alten Schuh aus dem Bach.«
    Luise Sassner kam aus dem Haus gelaufen, um ebenfalls dieses seltene Schauspiel zu erleben. Wenn ein passionierter Angler wie Gerd Sassner einen Schuh vom Angeln bringt, dann ist das eine Sternstunde des Spotts. Sie hatte sogar die Bratpfanne mitgebracht, um sie unter den alten Schuh zu halten. Der Sonntag versprach ein lustiger Tag zu werden.
    Gerd Sassner kam langsam näher, den Schuh in der Hand. Zuerst fiel es Dorle auf: Er ging ein wenig staksig, wie aufgezogen, im Takt des Marsches, den er pfiff. Merkwürdig sah es aus, wie eine Karikatur.
    »Ein Hurra dem kühnen Angler!« rief Dorle. Paps spielt seine Rolle wunderbar, dachte sie. Er könnte direkt ein Komiker sein.
    Sassner blieb stehen. Sein Blick glitt über seine Familie; es war ein leerer Blick, wie aus zwei Glasaugen, in deren Glanz sich die Landschaft spiegelt. Dann hob er mit einem Ruck den alten Schuh hoch und streckte ihn vor.
    »Meine Familie … Luise, meine Frau, Dorle und Andreas. Eine nette Familie, nicht wahr? Ich bin auch stolz auf sie.« Dann sah er Luise an und lächelte. »Darf ich dir meinen besten Freund vorstellen?« fragte er. Seine Stimme hatte den normalen Klang, tief und männlich. »Leutnant Benno Berneck. Er war mein Zugführer einst in Rußland.«
    »Sehr erfreut!« Luise lachte und machte einen Knicks. Dann hielt sie die Pfanne unter den alten Schuh. »Und nun in die Pfanne mit ihm, du großer Angler!«
    Sassners Gesicht versteinerte. Der Mund wurde schmal und verkrampft. Er sah den Schuh an und hob wie verzeihend die Schultern.
    »Entschuldige mich einen Augenblick«, sagte er. »Ich werde das gleich klären.« Er setzte den Schuh auf eine Bank vor die Haustür, ging ins Haus und winkte seiner Familie, mitzukommen. Im großen Wohnraum, von dem die Schlafkojen abgingen, blieb er stehen und drückte das Kinn hart an den Kragen seines karierten Hemdes. »Ich verbitte mir dieses Benehmen!« sagte er in scharfem Ton. »Wir haben einen Gast, und ihr
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