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Das Schiff - Roman

Das Schiff - Roman

Titel: Das Schiff - Roman
Autoren: Greg Bear
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Enttäuschung Bestürzung: Die nackten Glieder der Frau sind so hager und ausgemergelt, als hätten Zeit und Hunger sie verzehrt. Ihr Gesicht weist tiefe Runzeln auf. Als sie die Augen öffnet, fällt mir auf, wie trübe und gelb unterlaufen sie sind.
    Langsam und immer noch benommen wendet sie uns den Blick zu.
    Zum ersten Mal begegnen wir einem lebenden Menschen, der weder jung noch in guter körperlicher Verfassung ist. Diese Frau muss uralt sein. Sicher wurde sie konserviert – wie die ganze Unterkunft der Reiseleitung in den Kälteschlaf versetzt. Aber sie muss schon ein langes Leben hinter sich gehabt haben, bevor die Kapsel ihren Körper aufnahm – bevor sie diese letzte Möglichkeit wählte: die lange Reise in unsere Gegenwart, ihre Zukunft.
    Als die Kapsel sich schließlich teilt, steigt ein süßlicher Modergeruch von der nackten Alten auf, der mich an einen mit Duftwässerchen bestückten Toilettentisch einer alten Dame erinnert. Fast rechne ich damit, gleich einen runden Spiegel, blaue Tiegel mit Hautcreme und verfilzte Kämme mit grauen Haarsträhnen zu erblicken – die Spuren Tausender einsam verbrachter Abende.
    Während sie uns einen nach dem anderen mustert, ist ihr weder Verblüffung noch Bestürzung anzumerken.
Unser Äußeres schockiert sie nicht, unsere teilweise exotischen Körper scheinen ihr gleichgültig zu sein. Die Affen haben uns den Zugang zu ihr gewährt, und die Kugel hat sich erwärmt … Also akzeptiert sie einfach, was sie vor sich sieht. Aber vielleicht ist sie auch einfach zu alt, um wirklich Anteil an uns zu nehmen; möglicherweise bringt sie nicht mehr genügend Kraft dafür auf, und es kümmert sie gar nicht, ob wir für Niederlage oder Sieg stehen, vielleicht auch nur eine andere Phase in dem Plan darstellen, den sie vor Hunderten von Jahren gemeinsam mit anderen geschmiedet hat.
    »Hallo.« Sie hebt den mageren Arm und gibt den Affen mit ihren skelettartigen Fingern ein Zeichen. Gleich darauf bringen ihr vier der Affen ausgebleichte, zerschlissene Kleidung, die immer noch halb steifgefroren ist. Lächelnd schüttelt sie den Kopf. »Zu kalt.«
    Die Affen reichen das Gewand an Nell und mich weiter ; wir reiben den Stoff, um ihn anzuwärmen.
    »Das genügt«, sagt die Alte schließlich und schafft es, sich aus der Kapsel zu lösen.
    Als wir sie ankleiden, merken wir, dass sie so leicht wie ein Blatt ist. Nachdem ihr gebrechlicher Körper verhüllt ist, hebt sie die Schultern an, dehnt sie, schüttelt die mageren Arme aus und fährt sich mit einem Finger über die runzlige Wange. Dann sieht sie uns einen nach dem anderen an und fragt: »Wer von euch ist der Lehrer?«
    Die anderen deuten auf mich, denn ich bin zu verblüfft, um mich von der Stelle zu rühren oder irgendetwas
zu sagen. Schon der Gedanke daran, wie sich ihre Hände und Glieder beim Ankleiden anfühlten, tut mir weh. In meinem kurzen Leben habe ich schon alles Mögliche durchgemacht, aber mit einem Menschen, dessen biologische Lebensspanne auf so qualvolle Weise verlängert wurde, war ich noch niemals konfrontiert.
    »Bist du es wirklich?«, fragt die alte Frau und blickt mir ins Gesicht. Erst jetzt wird mir klar, dass sie fast blind ist. »Komm näher.« Als sie die Hände nach mir ausstreckt, helfen die Affen ihr wie treue Zofen vorwärts. »Ich hoffe, du erinnerst dich noch an mich. Früher einmal hätten wir einander viel bedeuten können.«
    Die Gesichtszüge der Alten treten jetzt deutlicher hervor. Ich mustere ihre Augen, die Wangen, die Kinnpartie und lege dieses Gesicht über zwei Bilder aus meiner Erinnerung, vergleiche es mit dem meiner Gefährtin aus der Traumzeit, mit der zusammen ich mich auf dem neuen Planeten niederlassen wollte oder sollte, und mit dem der Mutter in Schiffskörper 03.
    Mein Mund ist völlig ausgedörrt. »Ja, ich erinnere mich an dich«, erwidere ich.
    »Wäre bei deiner Zeugung irgendetwas schiefgelaufen, könntest du dich überhaupt nicht an mich erinnern. Ich bin so froh, dass du es kannst. Denn ich werde mich immer an dich erinnern.«
    »Bist du die Reiseleitung?«, fragt Nell.
    »Die Letzte der Gruppe. Aber zunächst zu etwas anderem: Wie diese seltsamen Kreaturen mir erzählten, habt ihr mir wunderbare kleine Geschenke mitgebracht. Ich habe sie nicht selbst geschaffen, müsst ihr
wissen. Das war Selchek. Mittlerweile ist er sicher tot. Zu unserer Gruppe gehörten noch drei andere, aber die sind wohl auch längst gestorben.«
    »Ja«, sagt Nell.
    Die mumifizierten
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