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0445 - Die Macht des Träumers

0445 - Die Macht des Träumers

Titel: 0445 - Die Macht des Träumers
Autoren: Werner Kurt Giesa
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Etwas stimmte nicht in dieser Nacht.
    Yves Cascal wußte es, ohne sagen zu können, woher dieser Eindruck kam. Er nahm einen Schluck aus der Tasse und verzog das Gesicht; das Getränk war glühend heiß. Café Mardi Gras, kreolische Spezialität, die Angelique ihm zusammengebraut hatte: eine halbe Tasse schwarzer, heißer Kaffee, verfeinert mit einem großen Schluck Rum, einem großen Schuß Wodka und einem Sahneklecks, der obenauf schwamm und sich langsam in der heißen Flüssigkeit auflöste.
    »Willst du, daß ich mir die Zunge verbrühe, Schwesterchen?« fragte er.
    Die Sechzehnjährige grinste von einem Ohr zum anderen. »Der Gedanke ist verlockend«, sagte sie, »aber wenn der Café dir zu heiß ist, kann ich noch etwas Rum hineintun, damit er abkühlt.«
    »Das bringt mich endgültig um«, murmelte Yves. »Pack das Teufelszeug weg für Notzeiten.« Die Rumflasche stammte von einem seiner »Beutezüge« der letzten Nächte. Er hatte sie einem Mann abgenommen, der mit einer beginnenden Alkoholvergiftung in einer Seitengasse zusammengebrochen war. Yves hatte telefonisch ein Krankenhaus alarmiert; mittlerweile war der Alkoholsüchtige wohl über den Berg, aber die Flasche Rum würde er nicht mehr brauchen. Deshalb hatte Yves sie mitgenommen, »ehe sie in falsche Hände fiel«.
    Angelique lehnte im Türrahmen. Kritisch betrachtete sie ihren Halbbruder. »Mit dir stimmt etwas nicht«, sagte sie. »Du bist zu unruhig.«
    Yves Cascal, den man den Schatten nannte, nickte. Er warf der handtellergroßen Silberscheibe, die auf einem Bett lag, einen mißtrauischen Blick zu. Schon mehrmals hatte er das verflixte Ding wegwerfen oder einschmelzen lassen wollen. Es hatte ihn bisher immer wieder in Abenteuer verwickelt, die er nicht wollte. Wundersame und erschreckende Dinge geschahen, Zauberei war am Werk.
    Der 28jährige Neger, dessen Großeltern noch Sklaven gewesen waren, wollte aber nicht in etwas hineingezogen werden, mogelte sich durchs Leben und schaffte es irgendwie immer wieder, durch Gelegenheitsarbeiten oder andere Tätigkeiten, seinen ein Jahr jüngeren Bruder und die freche Halbschwester zu ernähren. Vor allem der contergangeschädigte Maurice, dessen Füße unmittelbar an den Hüften saßen und der deshalb an den Rollstuhl gefesselt war, brauchte jede Menge finanzieller Unterstützung für sein College-Studium.
    Seit 15 Jahren waren die Eltern tot. Seit er 13 Jahre alt war, kümmerte sich Yves, der Schatten, um seine Geschwister. Oft genug bewegte er sich dabei an der Grenze der Legalität, weil es einfach anders nicht ging, aber er hatte die seltsame Fähigkeit, immer dann etwas Positives zu bewirken, wenn er etwas Negatives tat. Dabei war ihm das ziemlich egal; es ergab sich einfach so.
    Die Cascal-Geschwister wohnten in einer kargen Kellerwohnung in den Hafen-Slums von Baton Rouge in Louisiana, USA. Für eine bessere Unterkunft reichte es vorn und hinten nicht, aber sie konnten einigermaßen zufrieden sein. Wenn Maurice nicht im College war, kümmerte er sich trotz seiner Behinderung um den Haushalt, und Angelique kümmerte sich hingebungsvoll um Maurice. Yves sorgte für den Unterhalt.
    Dies tat er meistens nachts. Bei Nacht sind alle Katzen grau, und als Schatten unter Schatten fiel er nicht sonderlich auf. Er selbst kannte alle und jeden in den Kreisen der Halbwelt von Baton Rouge; er kam mit jedem zurecht. Der etwa 1,70 Meter große, drahtige und muskulöse Mann mit dem halblangen schwarzen Haar und den grauen Augen wußte sich auf seine Weise durchzusetzen.
    Er sah wieder Angelique an. »Glaubst du, es liegt an diesem Ding?« hörte er sie fragen und hob die Brauen. Er wußte es nicht. Eigentlich konnte er es sich nicht richtig vorstellen, und daß ausgerechnet seine Schwester ihn mit der Nase darauf zu stoßen versuchte, war für sie ungewöhnlich, weil sie noch weniger als er an Zauberei glaubte. Und er selbst hielt schon herzlich wenig davon; er stand mit beiden Beinen fest auf dem Boden der Tatsachen. Und das, was er bislang mit diesem silbernen Amulett erlebt hatte, ließ sich eher in die Kategorie »unerwünschter Alptraum« einordnen.
    Er dachte an die Jagd, die ein Wesen auf ihn veranstaltet hatte, das man wohl am ehesten einen Dämon nennen konnte. Eine rachsüchtige, furchtbare Kreatur, die ihm vorgeworfen hatte, er haben jemanden mit einer Bombe ausgelöscht. Unter bestimmten Voraussetzungen war Yves Cascal zu einer Menge Dinge fähig, aber er war kein Bombenleger, kein Terrorist, kein Killer,
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